Das Buch der Illusionen
Saint Johns Talente richtig beurteilt, aber nichts von dem, was sie gesagt hatte, und nichts von dem, was er von Saint John auf Zelluloid gesehen hatte, hatte Hector auf den überwältigenden Eindruck vorbereitet, den ihre physische Gegenwart auf ihn machen würde. Eine Frau in einem Stummfilm agieren zu sehen war eine Sache; eine ganz andere war es, dieser Frau die Hand zu schütteln und ihr in die Augen zu blicken. Andere Schauspielerinnen mochten auf der Leinwand imposanter wirken, aber in der realen Welt aus Tönen und färben, in der lebendigen, dreidimensionalen Welt der fünf Sinne und der vier Elemente und der zwei Geschlechter war ihm noch nie zuvor ein Wesen begegnet, das sich mit diesem hier vergleichen ließ. Saint John war nicht schöner als andere Frauen, und auch was sie in den fünfundzwanzig Minuten ihres Gesprächs an diesem Nachmittag sagte, war nicht sonderlich bemerkenswert. Genau genommen wirkte sie sogar ein wenig dumm, bestenfalls durchschnittlich intelligent, und doch besaß sie etwas, das es ihm unmöglich machte, den Blick von ihr abzuwenden, etwas Wildes, eine animalische Energie, die ihr aus allen Poren strömte und sich in jeder Gebärde zeigte. Die Augen, mit denen sie seine Blicke erwiderte, waren vom hellsten sibirischen Blau. Ihre Haut war weiß, ihr Haar dunkelrot, fast so dunkel wie Mahagoni. Und anders als die meisten Amerikanerinnen im Juni 1928 trug sie die Haare lang, schulterlang. Zuerst sprachen sie von eher nichtssagenden Dingen. Dann erklärte ihr Hector ganz unvermittelt, wenn sie wolle, könne sie die Rolle haben, und sie akzeptierte. Sie habe noch nie in einer Slapstick-Komödie mitgespielt, sagte sie, und sie freue sich auf die Herausforderung. Damit stand sie auf, gab ihm die Hand und verließ das Büro. Ihr Bild blieb unauslöschlich in seinem Kopf, und zehn Minuten später stand Hectors Entschluss fest, dass er Dolores Saint John heiraten werde. Sie war die Frau seines Lebens, und wenn sich herausstellte, dass sie ihn nicht haben wollte, würde er überhaupt niemals heiraten.
Sie machte ihre Sache in Der Requisiteur recht gut, tat alles, was Hector von ihr verlangte, und steuerte auch selbst einige gute Ideen bei, doch als er versuchte, sie für seinen nächsten Film zu verpflichten, zögerte sie. Alan Dwan hatte ihr die Hauptrolle in einem Spielfilm angeboten, und eine solch großartige Gelegenheit konnte sie sich einfach nicht entgehen lassen. Hector, der Mann mit dem magischen Händchen für Frauen, kam bei ihr nicht weiter. Ihm fehlten die Worte, sich ihr auf Englisch verständlich zu machen, und jedes Mal wenn er im Begriff war, ihr seine Absichten zu erklären, machte er im letzten Moment einen Rückzieher. Er glaubte, wenn er die falschen Worte wählte, würde er sie abschrecken und seine Chancen endgültig ruinieren. Unterdessen verbrachte er weiterhin manche Nacht in Brigids Wohnung, und da er ihr nichts versprochen hatte, da er frei war, jede Frau zu lieben, die er wollte, erzählte er ihr kein Wort von Saint John. Als Ende Juni die Dreharbeiten zu Der Requisiteur abgeschlossen waren, fuhr Saint John zu Außenaufnahmen für Dwans Film in die Tehachapi Mountains. Dort arbeitete sie vier Wochen, und in dieser Zeit schrieb Hector ihr siebenundsechzig Briefe. Was er ihr mangels Mut nicht von Angesicht zu Angesicht hatte sagen können, vertraute er jetzt dem Papier an. Er sagte es wieder und wieder, und auch wenn er es in jedem Brief anders formulierte, war es immer dasselbe. Anfangs war Saint John verblüfft. Dann fühlte sie sich geschmeichelt. Dann begann sie sich auf die Briefe zu freuen, bis sie schließlich erkannte, dass sie ohne sie nicht mehr leben konnte. Als sie Anfang August nach Los Angeles zurückkam, sagte sie Hector, ihre Antwort sei Ja. Ja, sie liebe ihn. Ja, sie wolle seine Frau werden.
Ein Datum für die Hochzeit wurde nicht festgesetzt, aber es war die Rede von Januar oder Februar - Zeit genug für Hector, seinen Vertrag mit Hunt zu erfüllen und über seine nächsten Schritte nachzudenken. Nun hätte er mit Brigid reden müssen, aber er schob es immer wieder auf, konnte sich einfach nicht dazu durchringen. Er habe bis spät in die Nacht mit Blaustein und Murphy zu arbeiten, sagte er, er sei im Schneideraum, er sei unterwegs und suche geeignete Drehorte, das Wetter mache ihm zu schaffen. Zwischen Anfang August und Mitte Oktober erfand er Dutzende von Vorwänden, sie nicht besuchen zu müssen, brachte es aber immer noch nicht über sich, die
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