Das Buch der Illusionen
des Puget Sound machte ihm die Finger steif und kroch ihm bis tief in die Knochen. Eine kurze Zigarettenpause, dann verteilte er Krabben und Austern auf klein gehacktem Eis, um schließlich nach Tagesanbruch diverse andere Dinge zu tun: klappernde Muscheln auf die Waage schütten und in braune Papiertüten füllen; mit seinem kurzen, tödlichen Krummsäbel Austern aufschlitzen. Wenn er nicht arbeitete, las Herman Loesser Bücher aus der Bücherei, führte Tagebuch und sprach mit keinem Menschen, es sei denn, es ließ sich absolut nicht vermeiden. Sein Ziel dabei war es, sagte Alma, sich unter der selbst auferlegten Not zu winden, sich das Leben so unbequem wie nur möglich zu machen. Als ihm die Arbeit zu einfach wurde, zog er nach Portland weiter, wo er einen Job als Nachtwächter in einer Fassmacherei fand. Nach dem Lärm des überdachten Markts jetzt also die Stille seiner Gedanken. Keine seiner Entscheidungen war endgültig, erklärte Alma. Seine Buße war ein Werk, das nie vollendet wurde, und die Strafen, die er über sich verhängte, wechselten je nachdem, was er jeweils gerade für seine größte Schwäche hielt. Er lechzte nach Gesellschaft, er sehnte sich danach, wieder mit einer Frau zusammen zu sein, er wollte Menschen und Stimmen um sich haben, und er mauerte sich in dieser leeren Fabrikhalle ein, um sich in die Feinheiten der Selbstverleugnung zu vertiefen.
Der Börsencrash fiel in die Portland-Zeit, und als Mitte 1930 die Comstock-Fassfabrik ihre Tore schloss, verlor Hector seinen Job. Inzwischen hatte er sich durch mehrere hundert Bücher gelesen, zunächst die gängigen Romane des 19. Jahrhunderts, von denen jedermann sprach, die aber niemand wirklich gelesen hatte (Dickens, Flaubert, Stendhal, Tolstoi), und dann, als er glaubte, den Dreh herausgefunden zu haben, beschloss er, bei null anzufangen und seine Bildung systematisch zu betreiben. Hector wusste so gut wie nichts. Mit sechzehn war er von der Schule abgegangen, und niemand hatte ihm je erklärt, dass Sokrates und Sophokles zwei verschiedene Menschen waren, dass George Eliot eine Frau war, oder dass Die Göttliche Komödie ein Gedicht über das Leben nach dem Tode war und nicht etwa eine Theaterposse, in der am Ende alle Beteiligten den richtigen Partner heiraten. Er hatte immer unter dem Druck der Verhältnisse gestanden und nie die Zeit gehabt, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Jetzt hatte er plötzlich alle Zeit der Welt. Eingekerkert in seinem privaten Alcatraz, verbrachte er die Jahre seiner Gefangenschaft mit dem Erwerb einer neuen Sprache, in der er über die Bedingungen seines Überlebens nachdenken und den ständigen, erbarmungslosen Schmerz in seiner Seele verstehen lernen konnte. Alma zufolge machte ihn die Strenge dieses intellektuellen Trainings nach und nach zu einem anderen Menschen. Er lernte, sich selbst aus der Distanz zu betrachten, sich erst einmal als einen unter vielen zu sehen, dann als zufällige Ansammlung von Materieteilchen und zuletzt als ein einzelnes Staubkörnchen - und je weiter er sich von seinem Ausgangsort entfernte, sagte sie, desto mehr näherte er sich wahrer Größe. Er hatte ihr seine Tagebücher aus dieser Zeit gezeigt, und so hatte Alma seine Gewissensqualen fünfzig Jahre nach der Tat unmittelbar miterleben können. Nie so verloren wie jetzt, zitierte sie mir eine Passage aus dem Gedächtnis, nie so einsam und verzagt - und doch nie so lebendig. Diese Worte schrieb er weniger als eine Stunde vor der Abreise aus Portland. Dann fiel ihm noch etwas ein, er setzte sich wieder hin und fügte unten auf der Seite noch folgenden Absatz hinzu: Ich rede jetzt nur mit den Toten. Sie sind die Einzigen, denen ich vertraue, die Einzigen, die mich verstehen. Wie sie lebe ich ohne Zukunft.
In Spokane gab es Arbeit, sagte man. Bei den Sägewerken waren angeblich Stellen frei, und mehrere Holzfällerlager im Osten und Norden sollten noch Leute suchen. Hector interessierte sich nicht für diese Jobs, aber eines Nachmittags, nicht lange nach der Schließung der Fassfabrik, bekam er zufällig mit, wie zwei Burschen sich über die Chancen dort oben unterhielten, und das brachte ihn auf eine Idee; und als er erst über diese Idee nachzudenken begann, konnte er ihr nicht mehr widerstehen. Brigid war in Spokane aufgewachsen. Ihre Mutter war tot, aber ihr Vater war noch da, und es gab auch zwei jüngere Schwestern in der Familie. Keine Folter, die Hector sich vorstellen konnte, kein Schmerz, den er sich selbst
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