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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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zufügen konnte, war schlimmer als der Gedanke, in die Stadt zu ziehen, in der diese Menschen lebten. Er würde Mr. O'Fallon und die beiden Mädchen nur einmal kurz sehen müssen, um ihre Gesichter niemals mehr zu vergessen, und wenn er dann an das Leid dächte, das er ihnen zugefügt hatte, wären sie ihm immer präsent. Er fand, er habe solche Qualen verdient. Er fühlte sich verpflichtet, diese Menschen für sich lebendig zu machen, sie in seinem Gedächtnis ebenso wirklich werden zu lassen wie Brigid selbst.
    Seit Kindheitstagen als der Rothaarige bekannt, hatte Patrick O'Fallon in den vergangenen zwanzig Jahren ein Geschäft im Zentrum von Spokane geführt; der Laden hieß Red's Sporting Goods. Am Morgen seiner Ankunft fand Hector zwei Straßen westlich des Bahnhofs ein billiges Hotel, zahlte eine Nacht im Voraus und machte sich auf die Suche; fünf Minuten später hatte er den Laden gefunden. Was er tun wollte, wenn er einmal da wäre, hatte er sich nicht überlegt, aber vorsichtshalber wollte er lieber draußen bleiben und versuchen, durchs Schaufenster einen Blick auf O'Fallon zu erhaschen. Hector hatte keine Ahnung, ob Brigid in ihren Briefen nach Hause jemals von ihm erzählt hatte. Wenn ja, wäre in der Familie bekannt, dass er mit spanischem Akzent sprach. Wichtiger noch, man hätte seinem Verschwinden 1929 besondere Beachtung geschenkt, und da Brigid selbst ebenfalls seit fast zwei Jahren verschwunden war, waren sie womöglich die einzigen Menschen in Amerika, die einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Fällen argwöhnten. Er brauchte nur in den Laden zu gehen und den Mund aufzumachen. Wenn O'Fallon wusste, wer Hector Mann war, stand zu erwarten, dass er nach drei oder vier Sätzen Verdacht schöpfen würde.
    Aber O'Fallon war überhaupt nicht zu sehen. Als Hector die Nase ans Schaufenster drückte und so tat, als interessiere er sich für die dort ausgestellten Golfschläger, hatte er einen guten Blick in den Laden, und soweit er das vom Fenster aus erkennen konnte, war dort niemand. Keine Kundschaft, kein Verkäufer hinter dem Ladentisch. Es war noch früh - kurz nach zehn -, aber das Schild an der Tür sagte OFFEN, und statt auf dem bevölkerten Bürgersteig zu bleiben und zu riskieren, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, verwarf Hector seinen Plan und beschloss hineinzugehen. Sollten sie herausfinden, wer er war, dann mochte es eben so sein, dachte er.
    Die Tür klingelte, als er sie aufzog, und die nackten
    Holzdielen knarrten unter seinen Schritten, als er nach hinten zum Ladentisch ging. Der Raum war nicht groß, aber die Regale waren vollgestopft mit allen möglichen Dingen; es schien dort alles zu geben, was irgendein Sportler oder Jäger sich nur wünschen konnte: Angelruten und Spulen, Schwimmflossen und Taucherbrillen, Schrotflinten und Jagdgewehre, Tennisschläger und Baseballhandschuhe, Fußbälle, Basketbälle, Schulterpolster und Helme, Schuhe mit Spikes und Schuhe mit Eisenkappen, Abschlag-Tees für Football und Golf, Kegel, Hanteln und Medizinbälle. Zwei Reihen regelmäßig angeordneter Stützpfeiler zogen sich durch den ganzen Laden, und an jedem einzelnen hing ein gerahmtes Foto von Red O'Fallon. Die Bilder zeigten ihn als jungen Mann, und auf allen war er bei irgendeiner sportlichen Betätigung zu sehen. Einmal als Baseballspieler, ein andermal als Footballspieler, vor allem aber als Läufer im knappen Dress eines Leichtathleten. Auf einem Foto hatte ihn die Kamera mitten im Lauf erwischt, beide Füße in der Luft, zwei Meter vor seinem nächsten Verfolger. Auf einem anderen, aufgenommen 1904 bei den Olympischen Spielen in Saint Louis, schüttelte ihm ein Mann in Frack und Zylinder die Hand und überreichte ihm eine Bronzemedaille.
    Als Hector an den Ladentisch trat, kam eine junge Frau aus einem Hinterzimmer. Sie wischte sich noch mit einem Handtuch die Hände ab, hielt den Kopf ein wenig schräg und sah zu Boden, aber auch wenn ihr Gesicht ihm größtenteils verborgen blieb, war etwas an ihrem Gang, etwas an ihren abfallenden Schultern, etwas an der Art, wie sie das Handtuch über ihre Finger rieb, das ihn sofort an Brigid erinnerte. Einige Sekunden lang hatte er das Gefühl, als habe es die vergangenen neunzehn Monate nie gegeben.
    Brigid war nicht mehr tot. Sie hatte sich aus ihrem Grab erhoben, sich aus der Erde gegraben, die er auf sie geworfen hatte, und da war sie nun wieder, unversehrt und lebendig, ohne Kugel im Gehirn und ohne Loch im Auge, und arbeitete

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