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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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dass es eine Arbeitermütze war, ein robustes Ding aus grobem Tweed mit schmalem Schirm - nicht viel anders als die Mütze, die er selbst getragen hatte, als er frisch in Amerika angekommen war. Hector stülpte sie um und sah nach, ob nichts darin war, ob sie nicht zu schmutzig war, um sie aufzusetzen. Er sah aber nur den Namen des Besitzers, der mit Tinte auf das lederne Innenband geschrieben war: Herman Loesser. Er fand den Namen gut, vielleicht sogar ausgezeichnet, auf jeden Fall nicht schlechter als irgendeinen anderen. Schließlich war er ja selbst Herr Mann. Wenn er sich jetzt Herman nannte, würde er seine Identität wechseln, ohne sich selbst ganz preiszugeben. Das war das Entscheidende: für die anderen zu verschwinden, selbst aber nicht zu vergessen, wer er war. Nicht weil er es wollte, sondern gerade weil er es nicht wollte.
    Herman Loesser. Manche sprachen den Namen aus wie Lesser, andere wie Loser. So oder so, Hector fand, er habe nun genau den Namen, den er verdient hatte.
    Die Mütze passte erstaunlich gut. Sie war weder zu weit noch zu eng, und sie war elastisch genug, dass er den Schirm tief in die Stirn ziehen und seine unverwechselbaren Augenbrauen, die grimmige Klarheit seiner Augen verhüllen konnte. Auf die Subtraktion folgte also eine Addition. Hector minus Schnurrbart, und dann Hector plus Mütze. Die zwei Operationen ergaben null, und als er an diesem Vormittag die Bahnhofstoilette verließ, sah er aus wie jedermann, war seinem Niemand wie aus dem Gesicht geschnitten.
    In Seattle lebte er sechs Monate, dann zog er für ein Jahr nach Portland und schließlich wieder in den Norden nach Washington zurück, wo er bis zum Frühjahr 1931 blieb. Anfangs trieb ihn die reine Panik um. Hector hatte das Gefühl, er müsse um sein Leben rennen, und in den Tagen nach seinem Verschwinden hatte er nichts anderes im Sinn als jeder andere Kriminelle: Jeder Tag, an dem er nicht geschnappt wurde, war für ihn ein guter Tag. Morgens und abends las er, was die Zeitungen über ihn schrieben, informierte sich über die Entwicklungen in dem Fall, um zu sehen, wie dicht man ihm auf den Fersen war. Die Artikel verblüfften ihn; er war entsetzt, wie wenig Mühe sich die Leute gemacht hatten, ihn wirklich kennenzulernen. Hunt war nur eine winzige Randfigur, und doch begann und endete jeder einzelne Artikel mit ihm: Börsenmanipulationen, betrügerische Investitionen, Hollywood und seine Geschäfte in ihrer ganzen vermoderten Pracht. Brigids Name wurde nie erwähnt, und bevor Dolores nach Kansas zurückging, hatte sich niemand die Mühe gemacht, mit ihr zu reden. Tag für Tag wurde der Druck kleiner, und als es nach vier Wochen immer noch keinen Durchbruch gab und das Interesse der Zeitungen allmählich nachließ, begann seine Panik sich zu legen. Niemand verdächtigte ihn wegen irgendwas. Wenn er gewollt hätte, hätte er nach Hause zurückgehen können. Er brauchte nur den Zug nach Los Angeles zu nehmen, und dort hätte er sein Leben genau so weiterführen können, wie er es zurückgelassen hatte.
    Aber Hector ging nirgendwo hin. Nichts wünschte er sehnlicher, als in seinem Haus am North Orange Drive mit Blaustein auf der Sonnenveranda zu sitzen, Eistee zu trinken und Punkt und Komma den letzten Schliff zu geben. Filmemachen glich einem Leben im Delirium. Es war die anstrengendste, anspruchsvollste Arbeit, die jemals erfunden worden war, und je schwieriger sie wurde, desto mehr stärkte sie ihn. Er arbeitete sich hinein, lernte nach und nach die Feinheiten des Handwerks, und er war überzeugt davon, dass er mit etwas mehr Zeit einer der Guten hätte werden können. Das war alles, was er je von sich verlangt hatte: in dieser einen Sache gut zu sein. Nur das hatte er gewollt, und daher war genau dies das eine, das er sich nie wieder erlauben würde. Man treibt eine unschuldige junge Frau nicht in den Wahnsinn, man schwängert sie auch nicht, und man vergräbt ihre Leiche nicht drei Meter tief im Boden und erwartet dann, dass man sein Leben so weiterführen kann wie zuvor. Ein Mann, der getan hatte, was er getan hatte, musste hart bestraft werden. Und wenn die Welt es nicht tat, würde er es eben selbst tun müssen.
    Er nahm sich ein Zimmer in einer Pension am Pike Place Market, und als das Geld in seiner Brieftasche aufgebraucht war, fand er Arbeit bei einem der Fischhändler dort. Jeden Morgen um vier stand er auf und entlud Lastwagen im Nebel vor dem Morgengrauen; er schleppte Kisten und Säcke, und die feuchte Kälte

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