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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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als Verkäuferin im Laden ihres Vaters in Spokane, Washington.
    Die Frau kam langsam auf ihn zu, hielt nur einmal kurz an, um das Handtuch auf einen ungeöffneten Karton zu legen, und dann geschah etwas Unheimliches, denn als sie den Kopf hob und ihm in die Augen sah, blieb die Illusion bestehen. Sie hatte tatsächlich Brigids Gesicht. Dieselbe Wangenpartie, derselbe Mund, dieselbe Stirn und dasselbe Kinn. Als sie ihn dann anlächelte, sah er, dass sie auch dasselbe Lächeln hatte. Erst als sie bis auf zwei Meter an ihn herangekommen war, konnte er gewisse Unterschiede feststellen. Ihr Gesicht war voller Sommersprossen, was man von Brigids Gesicht nicht hatte sagen können, und das Grün ihrer Augen war dunkler. Auch standen sie weiter auseinander, ein wenig weiter von der Nasenwurzel entfernt, und gerade diese winzige Abweichung steigerte die Harmonie ihrer Züge und ließ sie noch ein klein wenig hübscher als ihre Schwester erscheinen. Hector erwiderte ihr Lächeln, und als sie am Ladentisch angekommen war und ihn mit Brigids Stimme fragte, ob sie ihm helfen könne, hatte er nicht mehr das Gefühl, in tödlicher Ohnmacht auf den Boden sinken zu müssen.
    Er suche Mr. O'Fallon, sagte er, und wolle wissen, ob er ihn sprechen könne. Er gab sich keine Mühe, seinen Akzent zu verheimlichen, sprach das Wort Mister mit übertrieben gerolltem R am Ende und forschte dann in ihrem Gesicht nach irgendeiner Reaktion. Nichts geschah, beziehungsweise das Gespräch ging weiter, als ob nichts geschehen wäre, und Hector war sofort klar, dass Brigid nichts von ihm erzählt hatte. Sie war in einer katholischen Familie aufgewachsen, und sie musste vor dem Gedanken zurückgeschreckt sein, ihrem Vater und ihren Schwestern mitzuteilen, dass sie mit einem Mann ins Bett stieg, der mit einer anderen Frau verlobt war, und dass dieser Mann, dessen Penis beschnitten war, nicht die Absicht hatte, die Verlobung zu lösen, um sie zu heiraten. Wenn das stimmte, wussten sie wahrscheinlich auch nicht, dass sie schwanger gewesen war. Und dass sie sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hatte und dass sie zwei Monate lang in einem Krankenhaus von besseren und effizienteren Möglichkeiten geträumt hatte, sich umzubringen. Es war sogar denkbar, dass sie ihnen schon lange vor Saint Johns Dazwischenkunft zu schreiben aufgehört hatte, zu einer Zeit, als sie noch zuversichtlich daran glaubte, dass alles sich nach ihren Wünschen entwickeln würde.
    Hectors Gedanken rasten jetzt in verschiedenen Richtungen hin und her, und als die Frau hinter dem Ladentisch sagte, ihr Vater sei diese Woche nicht in der Stadt, er habe geschäftlich in Kalifornien zu tun, glaubte Hector zu wissen, um was für Geschäfte es sich handelte. Red O'Fallon war nach Los Angeles gefahren, um mit der Polizei über seine verschwundene Tochter zu reden. Er drängte, es müsse endlich etwas unternommen werden in diesem Fall, der sich nun schon so viele Monate hinzog, und wenn er von der Polizei keine befriedigende Auskunft erhielt, würde er einen Privatdetektiv anheuern und die Suche noch einmal ganz von vorne beginnen. Koste es, was es wolle, hatte er wahrscheinlich zu seiner Tochter in Spokane gesagt, bevor er aufgebrochen war. Irgendetwas muss jetzt getan werden, ehe es zu spät ist.
    Die Tochter sagte, sie vertrete ihren Vater, solange er nicht da sei, aber wenn Hector ihr seinen Namen und seine Telefonnummer aufschreiben würde, könne sie ihm das geben, wenn er am Freitag zurückkomme. Nicht nötig, sagte Hector, er werde sich am Freitag selbst wieder melden, und dann fragte er sie - aus reiner Höflichkeit, vielleicht auch, weil er einen guten Eindruck machen wollte -, ob sie den Laden jetzt wirklich ganz allein führen müsse. Für nur eine Person scheine ihm das doch etwas zu viel zu sein, sagte er.
    Eigentlich seien sie zu dritt, antwortete sie, aber der Buchhalter habe sich heute Morgen krankgemeldet, und der Lagergehilfe sei letzte Woche gefeuert worden, weil er Baseballhandschuhe geklaut und zum halben Preis an die Kinder in der Nachbarschaft verkauft habe. Sie komme sich tatsächlich ein wenig verloren vor, sagte sie. Es sei ewig lange her, dass sie im Geschäft ausgeholfen habe, sie könne einen Putter nicht von einem Holz unterscheiden, ja sie könne sogar kaum die Kasse bedienen, ohne ein Dutzend verkehrte Knöpfe zu drücken und alles durcheinanderzubringen.
    Sie sagte das alles sehr freundlich und offen. Anscheinend machte es ihr nichts aus, ihm so

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