Das Buch der Illusionen
etwas anzuvertrauen, und im weiteren Verlauf der Unterhaltung erfuhr Hector, dass sie in den vergangenen vier Jahren für den Lehrerberuf studiert hatte, an einer Uni, die sie State nannte und bei der es sich, wie er dann herausbekam, um das State College of Washington in Pullman handelte. Im Juni hatte sie ihr Examen bestanden, und jetzt wohnte sie wieder bei ihrem Vater und konnte demnächst eine vierte Klasse an der Horace-Greeley-Grundschule übernehmen. Sie könne ihr Glück noch gar nicht fassen, sagte sie. Das sei dieselbe Schule, die sie als Mädchen besucht habe, und sie und ihre beiden älteren Schwestern hätten alle in der vierten Klasse Mrs. Neergaard gehabt. Mrs. N. habe dort zweiundvierzig Jahre lang unterrichtet, und es komme ihr wie ein Wunder vor, dass ihre alte Lehrerin genau in dem Moment in Pension gegangen sei, als sie angefangen habe, sich nach einer Stelle umzusehen. In nicht einmal mehr sechs Wochen werde sie als Lehrerin in demselben Klassenraum stehen, in dem sie als zehnjährige Schülerin täglich gesessen habe. Und sei es nicht seltsam, sagte sie, sei es nicht komisch, wie es im Leben manchmal zugehe?
Ja, sehr komisch, sagte Hector, sehr seltsam. Er wusste jetzt, dass er mit Nora sprach, dem jüngsten der O'Fallon-Mädchen, und nicht mit Deirdre, die mit neunzehn geheiratet hatte und nach San Francisco gezogen war. Nach drei Minuten in ihrer Gesellschaft war Hector sich darüber im Klaren, dass Nora ganz anders als ihre tote Schwester war. Sie mochte Brigid äußerlich ähnlich sein, aber sie hatte nichts von ihrer reizbaren, besserwisserischen Energie, nichts von ihrem Ehrgeiz, nichts von ihrer nervösen, blitzschnellen Intelligenz. Diese hier war weicher und naiver und fühlte sich wohl in ihrer Haut. Er erinnerte sich daran, dass Brigid sich selbst einmal als die einzige der O'Fallon-Schwestern bezeichnet hatte, in deren Adern echtes Blut flösse. Deirdre sei aus Essig, hatte sie gesagt, und Nora bestünde komplett aus warmer Milch, und eigentlich hätte sie Brigid heißen müssen, nach der heiligen Brigid, der Schutzheiligen Irlands, denn wenn jemals ein Mensch dazu bestimmt gewesen sei, sein Leben der Selbstaufopferung und guten Taten zu weihen, dann ihre kleine Schwester Nora.
Wieder war Hector schon kurz davor, den Laden zu verlassen, und wieder hielt ihn etwas fest. Ein neuer Gedanke war ihm in den Kopf gekommen - eine völlig irrsinnige Idee, derart riskant und selbstzerstörerisch, dass er staunte, wie er überhaupt darauf kommen konnte, geschweige denn, woher er den Mut nahm, sie in die Tat umzusetzen.
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, sagte er zu Nora - er hob die Achseln und bat sie lächelnd um Verzeihung -, aber er sei hier, weil er Mr. O'Fallon fragen wolle, ob er Arbeit für ihn habe. Er habe von der Sache mit dem Lagergehilfen gehört und wolle wissen, ob die Stelle noch frei sei. Das ist ja merkwürdig, sagte Nora. Die Geschichte sei erst gestern passiert, und sie seien noch nicht dazu gekommen, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen. Das hätten sie erst tun wollen, wenn ihr Vater von seiner Reise zurückgekommen sei. Tja, so was spricht sich schnell rum, sagte Hector. Das sei wohl wahr, antwortete Nora, aber wieso wolle er denn als Lagergehilfe arbeiten? Das sei ein Job für Leute, die Muskeln hätten, aber nichts im Kopf und keinen Ehrgeiz; er werde bestimmt etwas Besseres finden. Nicht unbedingt, sagte Hector. Die Zeiten seien hart, und jeder Job, mit dem man in solchen Zeiten Geld verdienen könne, sei ein guter Job. Ob sie ihm nicht eine Chance geben wolle? Sie sei ganz allein in dem Laden, und er wisse, sie könne Hilfe brauchen. Wenn sie mit ihm zufrieden sei, könne sie bei ihrem Vater vielleicht ein gutes Wort für ihn einlegen. Was Miss O'Fallon davon halte? Sei die Sache abgemacht?
Herman Loesser war noch keine Stunde in Spokane, und schon hatte er wieder Arbeit. Über die Verwegenheit seiner Bewerbung lachend, gab Nora ihm die Hand, und dann zog Hector sein Jackett aus (das einzige anständige Kleidungsstück, das er besaß) und machte sich an die Arbeit. Er war zu einer Motte geworden und flatterte den Rest des Tages um eine heiße, brennende Kerze herum. Er wusste, er konnte sich jederzeit die Flügel verbrennen, aber je näher er an die Flamme kam, desto deutlicher spürte er, dass er sein Schicksal erfüllte. Wie er an diesem Abend in sein Tagebuch schrieb: Falls ich mein Leben wirklich retten will, muss ich erst ganz kurz davor sein, es zu
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