Das Buch der Illusionen
anzusehen. Alles hin. Alles zerstört. Auch das ungeborene Baby in ihr: tot. Schließlich stand er auf, ging in den Flur und nahm eine Decke aus dem Schrank. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, sah er sie ein letztes Mal an, und wieder verkrampfte sich seine Lunge. Er schlug die Decke auf und breitete sie über ihren kleinen tragischen Körper.
Sein erster Impuls war, zur Polizei zu gehen, aber Dolores hatte Angst. Wie würde sich ihre Geschichte anhören, wenn man sie wegen der Waffe ausfragen würde, sagte sie, wenn man sie zwingen würde, den ganzen unwahrscheinlichen Ablauf der Ereignisse zum zwölften Mal durchzugehen, wenn sie erklären musste, warum eine vierundzwanzigjährige Schwangere tot bei ihr im Wohnzimmer lag? Selbst wenn man ihr glauben würde, selbst wenn man akzeptieren wolle, dass die Waffe versehentlich losgegangen war, würde der Skandal sie ruinieren. Mit ihrer Karriere wäre es aus, und mit Hectors Karriere natürlich auch, und warum sollten sie für etwas büßen, an dem sie gar keine
Schuld hätten? Sie sollten Reggie anrufen - gemeint war Reginald Dawes, ihr Agent, derselbe Idiot, der ihr die Waffe gegeben hatte -, der könne sich darum kümmern. Reggie sei klug, er kenne alle Tricks. Reggie würde bestimmt etwas einfallen, wie sie den Kopf aus der Schlinge ziehen könnten.
Aber Hector wusste, dass nichts mehr zu retten war. Redeten sie, gab es Skandal und öffentliche Demütigung; redeten sie nicht, gab es noch viel größeren Ärger. Man konnte sie wegen Mordes anklagen, und wenn der Fall erst einmal vor Gericht aufgerollt wurde, würde kein Mensch glauben, dass Brigids Tod ein Unfall gewesen war. Eins schlimmer als das andere. Hector musste entscheiden. Er musste für sie beide entscheiden, und eine richtige Entscheidung gab es nicht. Lass Reggie da raus, sagte er zu ihr. Wenn Dawes Wind davon bekäme, was sie getan habe, hätte er sie in der Hand. Dann würde sie den Rest ihres Lebens auf blutigen Knien vor ihm herumrutschen müssen. Bloß keinen Dritten hinzuziehen. Entweder ans Telefon gehen und die Polizei holen, oder mit gar keinem reden. Und wenn sie mit niemand redeten, würden sie sich selbst um die Leiche kümmern müssen.
Er wusste, dass er dafür in der Hölle schmoren würde, und er wusste auch, dass er Dolores nie wieder sehen würde, aber er sagte es trotzdem, und dann brachten sie die Sache hinter sich. Das war jetzt keine Frage von Gut und Böse mehr. Es ging nur darum, unter den gegebenen Umständen so wenig Schaden wie möglich anzurichten und nicht sinnlos noch ein zweites Leben kaputtzumachen. Sie luden Brigids Leiche in den Kofferraum von Dolores' Chrysler und fuhren in die Berge, etwa eine Stunde nördlich von Malibu. Die Leiche war noch in die Decke gehüllt, und die wiederum war in den Läufer gewickelt. Eine Schaufel hatten sie ebenfalls eingepackt. Hector hatte sie im Gartenschuppen hinter Dolores' Haus gefunden und benutzte sie dann, um das Loch auszuheben. Wenn ich Dolores auch sonst nichts schulde, dachte er, dann wenigstens das. Schließlich hatte er sie betrogen, und das Bemerkenswerte daran war, dass sie ihm weiter vertraute. Brigids Geschichten waren wirkungslos an ihr abgeprallt. Sie hatte sie als dummes Geschwätz abgetan, als hirnrissige Lügen einer durchgedrehten, eifersüchtigen Frau, und selbst als ihr der Beweis direkt vor ihr schönes Näschen gehalten worden war, hatte sie nichts davon wissen wollen. Es konnte natürlich Eitelkeit gewesen sein, eine ungeheuerliche Eitelkeit, die von der Welt nur sah, was sie sehen wollte, es konnte aber genauso gut auch wahre Liebe gewesen sein, eine so blinde Liebe, dass Hector sich kaum vorzustellen wagte, was er da verlieren sollte. Selbstredend hat er nie erfahren, was von beidem es war. Als sie von ihrem furchtbaren Ausflug in die Berge nach Hause kamen, fuhr er gleich mit seinem eigenen Auto weiter, und seit diesem Abend hat er sie nicht mehr wieder gesehen.
Und er selbst verschwand auch. Bis auf die Kleider, die er trug, und das Bargeld in seiner Brieftasche ließ er alles hinter sich, und um zehn Uhr am nächsten Morgen saß er bereits im Zug nach Seattle. Er rechnete fest damit, geschnappt zu werden. Wenn Brigid erst einmal als vermisst gemeldet wäre, würde es nicht lange dauern, bis jemand einen Zusammenhang zwischen den beiden Vermisstenfällen herstellte. Die Polizei würde ihn vernehmen wollen, und spätestens dann würde man ernsthaft nach ihm zu suchen anfangen. Aber Hector täuschte sich, so
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