Das Buch der Illusionen
zerstören.
Wider Erwarten hielt Hector fast ein Jahr lang durch. Erst als Lagergehilfe im Hinterzimmer, dann als Buchhalter und stellvertretender Geschäftsführer, unmittelbar unter O'Fallon selbst. Nora sagte, ihr Vater sei dreiundfünfzig, aber als Hector ihm am folgenden Montag vorgestellt wurde, fand er, dass er viel älter aussah, eher wie sechzig, vielleicht sogar wie hundert. Das Haar des ehemaligen Leichtathleten war nicht mehr rot, der einst geschmeidige Oberkörper nicht mehr in Form, und manchmal konnte er sich wegen eines arthritischen Knies nur humpelnd fortbewegen. O'Fallon erschien jeden Morgen Punkt neun im Laden, hatte aber offensichtlich kein Interesse mehr an der Arbeit und war gewöhnlich um elf oder halb zwölf wieder verschwunden. Wenn sein Bein es erlaubte, fuhr er in den Country Club und spielte mit zwei oder drei alten Freunden eine Partie Golf. Wenn nicht, ging er zu einem ausgiebigen Mittagessen ins Bluebell Inn, ein Restaurant auf der anderen Straßenseite, und verbrachte dann den Nachmittag zu Hause im Bett, las die Zeitung und trank Jameson's Irish Whiskey, den er jeden Monat aus Kanada herüberschmuggelte.
An Hector und seiner Arbeit hatte er nie etwas auszusetzen. Er lobte ihn aber auch nie. O'Fallon bekundete seine Dankbarkeit, indem er gar nichts sagte, und wenn er gelegentlich einmal freundlicher gestimmt war, grüßte er Hector mit einem kaum merklichen Nicken. Mehr Kontakt gab es monatelang kaum zwischen den beiden. Anfangs machte das Hector zu schaffen, aber mit der Zeit lernte er, es nicht persönlich zu nehmen. Der Mann lebte in einer stummen Innenwelt, in endlosem Widerstand gegen die Außenwelt, er schien sich mit keinem anderen Ziel durch die Tage treiben zu lassen als dem, die Stunden so schmerzlos wie möglich hinter sich zu bringen. Er verlor niemals die Geduld, er stellte nur selten ein Lächeln zur Schau. Er war fair und reserviert, abwesend auch dann, wenn er anwesend war, und er brachte für sich selbst nicht mehr Mitgefühl und Sympathie auf als für jeden anderen. So verschlossen und gleichgültig O'Fallon ihm gegenüber war, so offen und engagiert war Nora. Schließlich war sie es gewesen, die Hector eingestellt hatte, und sie fühlte sich auch weiter für ihn verantwortlich und behandelte ihn abwechselnd als Freund, als Schützling und als Gegenstand von Bekehrungsversuchen. Nachdem ihr Vater aus Los Angeles zurückgekommen und der Buchhalter von seiner Gürtelrose genesen war, waren Noras Dienste im Laden nicht mehr gefragt. Sie bereitete sich auf das anstehende Schuljahr vor, besuchte alte Klassenkameraden und ließ sich von etlichen jungen Männern den Hof machen, nahm sich aber trotzdem den ganzen Sommer lang immer wieder am frühen Nachmittag die Zeit, bei Red's vorbeizuschauen und sich nach Hectors Wohlergehen zu erkundigen. Sie hatten nur vier Tage zusammengearbeitet und während der halbstündigen Mittagspause im Lagerraum jedes Mal ihre Käsebrote geteilt, und das war zur Tradition geworden. Sie brachte weiter ihre Käsebrote, und sie sprachen in diesen halben Stunden weiter über Bücher. Für Hector, den angehenden Autodidakten, war dies eine Chance, etwas zu lernen. Für Nora, frisch vom College und angehende Lehrerin, war es eine Chance, einem klugen und lernbegierigen Schüler etwas mitzuteilen. Hector ackerte sich in diesem Sommer durch Shakespeare, und Nora las die Stücke parallel dazu auch, erklärte ihm die Wörter, die er nicht verstand, erläuterte die eine oder andere historische oder bühnentechnische Frage und sprach über Psychologie und Motivation der Figuren. Als Hector bei einem dieser Hinterzimmergespräche im dritten Akt von Lear über die Aussprache der Worte Thou ow'st stolperte, gestand er ihr, wie peinlich es ihm sei, einen solchen Akzent zu haben. Er komme mit dieser verfluchten Sprache einfach nicht zurecht, sagte er, und wenn er vor Leuten wie ihr etwas sage, werde er sich immer anhören wie ein Idiot. Nora wollte von solchem Pessimismus nichts wissen. Sie habe am State als Nebenfach Sprachtherapie studiert, sagte sie, und es gebe konkrete Hilfsmittel, praktische Übungen und Techniken zur Verbesserung der Aussprache. Wenn er bereit sei, sich der Herausforderung zu stellen, verspreche sie ihm, dass sie ihn von seinem Akzent befreien und alle Spuren des Spanischen von seiner Zunge entfernen werde. Hector erinnerte sie daran, dass er nicht in der Lage sei, für einen solchen Unterricht zu zahlen. Wer hat denn von Geld
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