Das Buch der Illusionen
geredet?, erwiderte Nora. Wenn er die Mühe nicht scheue, wolle sie ihm helfen.
Als im September das Schuljahr anfing, stand die junge Lehrerin für die Mittagspause nicht mehr zur Verfügung. Stattdessen arbeitete sie abends mit ihrem Schüler, jeden Dienstag und Donnerstag von sieben bis neun, im Wohnzimmer des Hauses O'Fallon. Hector mühte sich sehr mit dem kurzen i und e, dem gelispelten th, dem zahnlosen r. Stumme Vokale, dentale Verschlusslaute, Labiale, Frikative, Palatale, Phoneme. Meist hatte er keine Ahnung, wovon Nora überhaupt redete, aber die Übungen schienen Wirkung zu zeigen. Seine Zunge begann Laute zu produzieren, die ihr früher nie gelungen waren, und nach neun anstrengenden Monaten hatte er solche Fortschritte gemacht, dass man kaum noch hören konnte, wo er zur Welt gekommen war. Er sprach vielleicht nicht wie ein Amerikaner, aber auch nicht wie ein unerfahrener, ungebildeter Einwanderer. Nach Spokane zu gehen mochte ein großer Fehler gewesen sein, hatte sich aber allein schon wegen Noras Ausspracheunterricht gelohnt, der bei Hector einen tiefen und bleibenden Eindruck hinterließ. Er bewahrte sich das Erlernte für den Rest seines Lebens, und jedes Wort, das er in den nächsten fünfzig Jahren sprach, war davon beeinflusst.
O'Fallon blieb an diesen Dienstagen und Donnerstagen meist oben in seinem Zimmer, oder er spielte Poker bei Freunden. Eines Abends Anfang Oktober läutete während des Unterrichts das Telefon, und Nora ging auf den Flur und nahm den Hörer ab. Sie sprach kurz mit der Vermittlung, dann rief sie nervös und aufgeregt zu ihrem Vater hinauf, Stegman sei am Apparat. Er sei in Los Angeles, sagte sie, und wolle ein R-Gespräch. Ob sie es annehmen solle? O'Fallon sagte, er käme sofort. Nora schloss die Schiebetür zwischen Wohnzimmer und Flur, damit ihr Vater ungestört reden konnte, aber O'Fallon war etwas angetrunken und sprach so laut, dass Hector manches davon mitbekam. Nicht alles, aber genug, um zu erkennen, dass der Anruf keine guten Nachrichten gebracht hatte.
Zehn Minuten später ging die Schiebetür wieder auf, und O'Fallon schlurfte ins Wohnzimmer. Er trug ausgelatschte Lederpantoffeln, und seine Hosenträger waren von den Schultern gerutscht und hingen ihm um die Knie. Schlips und Kragen hatte er abgenommen, und um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, musste er sich an der Kante des Walnusstischs festhalten. In den nächsten Minuten sprach er nur mit Nora, die neben Hector auf der Couch mitten im Zimmer saß. Der Schüler seiner Tochter hätte ebenso gut unsichtbar sein können, so wenig beachtete er ihn. Nicht dass O'Fallon ihn ignorierte oder so tat, als sei er gar nicht da, nein, er nahm ihn schlichtweg nicht wahr. Und Hector, der jede Einzelheit des folgenden Gesprächs verstand, wagte nicht, das Zimmer zu verlassen.
Stegman habe das Handtuch geworfen, sagte O'Fallon. Er habe monatelang an dem Fall gearbeitet und keinen einzigen brauchbaren Hinweis gefunden. Die Sache gehe ihm an die Nieren. Er wolle ihr Geld nicht mehr nehmen.
Nora fragte ihren Vater, wie er darauf reagiert habe, und O'Fallon sagte, er habe ihm erklärt, wenn er so ein schlechtes Gewissen habe, ihr Geld zu nehmen - warum zum Teufel müsse er sie dann dauernd per R-Gespräch anrufen? Und dann habe er ihm gesagt, er sei hundsmiserabel in seinem Job. Wenn Stegman aufhören wolle, werde er sich eben einen anderen nehmen.
Nein, Dad, sagte Nora, das stimmt nicht. Wenn Stegman sie nicht finden könne, könne niemand sie finden. Er sei der beste Privatdetektiv der ganzen Westküste. Das habe Reynolds gesagt, und Reynolds könne man vertrauen.
Reynolds kann mich mal, sagte O'Fallon. Und Stegman auch. Die könnten sagen, was sie wollten, aber er werde ganz bestimmt nicht aufgeben.
Nora schüttelte den Kopf, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie müssten den Tatsachen allmählich ins Gesicht sehen, sagte sie. Wenn Brigid noch am Leben wäre, hätte sie geschrieben. Oder angerufen. Ihnen irgendwie mitgeteilt, wo sie sei.
Von wegen hätte sie das, sagte O'Fallon. Seit über vier Jahren habe sie nicht mehr geschrieben. Sie habe mit ihrer Familie gebrochen, und das sei die Tatsache, der man ins Auge sehen müsse.
Nicht mit der Familie, sagte Nora. Nur mit ihm. Ihr habe Brigid die ganze Zeit geschrieben. Als sie in Pullman studiert habe, habe sie alle drei, vier Wochen einen Brief von ihr bekommen.
Aber davon wollte O'Fallon nichts hören. Er wolle nicht mehr darüber reden, und wenn sie nicht
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