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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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zu ihm stünde, werde er eben allein weitermachen. Er pfeife auf sie und ihre gottverdammten Meinungen. Und mit diesen Worten ließ O'Fallon den Tisch los, schwankte gefährlich, bis er sich mühsam ausbalanciert hatte, und torkelte aus dem Zimmer.
    Hector hätte bei dieser Szene nicht zugegen sein dürfen. Er war nur der Lagergehilfe, kein vertrauter Freund, und er hatte weder das Recht, private Unterhaltungen zwischen Tochter und Vater zu belauschen, noch überhaupt dabei zu sein, wenn sein Boss betrunken und verschlampt durchs Zimmer taumelte. Hätte Nora ihn gebeten zu gehen, wäre die Sache ein für alle Mal erledigt gewesen. Er hätte nicht gehört, was er gehört hatte, er hätte nicht gesehen, was er gesehen hatte, und das Thema wäre nie wieder zur Sprache gekommen. Sie hätte nur einen einzigen Satz zu sagen brauchen, irgendeine lahme Ausrede, und Hector hätte sich von der Couch erhoben und Gute Nacht gesagt.
    Aber Nora besaß kein Talent zur Heuchelei. Die Tränen standen ihr noch in den Augen, als O'Fallon aus dem Zimmer ging, und da das verbotene Thema nun einmal angesprochen war, hatte sie keinen Grund mehr, davon zu schweigen.
    Ihr Vater sei nicht immer so gewesen, sagte sie. Als sie und ihre Schwestern klein waren, sei er ein ganz anderer Mensch gewesen, und jetzt erkenne man ihn kaum wieder, wisse man kaum noch, wie er früher einmal gewesen war. Red O'Fallon, der Blitz des Nordwestens. Patrick O'Fallon, der Mann von Mary Day. Dad O'Fallon, der Abgott der kleinen Mädchen. Aber wenn man an die letzten sechs Jahre denke, sagte sie, wenn man bedenke, was er durchgemacht habe, sei es vielleicht nicht mehr so seltsam, dass er nur noch einen einzigen Freund habe, diesen Jameson - diesen finsteren stummen Kerl da oben in all den Flaschen mit der bernsteingelben Flüssigkeit. Der erste Schlag war der Tod ihrer Mutter; sie starb mit vierundvierzig an Krebs. Das war schon hart genug, sagte sie, aber dann kam es immer schlimmer, ein Unglück nach dem anderen für die Familie, ein Schlag in den Magen und dann einer ins Gesicht, so lange, bis er alldem nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Weniger als ein Jahr nach der Beerdigung wurde Deirdre schwanger, und als sie sich weigerte, den Mann zu heiraten, den O'Fallon ihr bestimmt hatte, warf er sie aus dem Haus. Dadurch brachte er auch Brigid gegen sich auf, sagte Nora. Ihre älteste Schwester war damals im letzten Studienjahr am Smith College, lebte also räumlich sehr weit entfernt, doch als sie hörte, was geschehen war, schrieb sie ihrem Vater, wenn er Deirdre nicht wieder zu Hause aufnehme, werde sie nie mehr ein Wort mit ihm reden. O'Fallon blieb stur. Er zahle für Brigids Ausbildung, und für wen halte sie sich eigentlich, dass sie sich erdreiste, ihm Vorschriften zu machen? Die Kosten für das letzte Semester bestritt sie selbst, und nach dem Examen zog sie direkt nach Kalifornien, um Schriftstellerin zu werden. Nicht mal zu einem kurzen Besuch kam sie in Spokane vorbei. Sie war genauso störrisch wie ihr Vater, sagte Nora, und Deirdre war zweimal so störrisch wie die beiden zusammen. Es zählte nicht, dass Deirdre jetzt verheiratet war und noch ein Kind bekommen hatte. Sie sprach immer noch nicht mit ihrem Vater und Brigid auch nicht. Unterdessen zog Nora zum Studium nach Pullman. Sie hielt regelmäßigen Kontakt mit beiden Schwestern, aber Brigid war die bessere Korrespondentin, und selten verging ein Monat, in dem Nora nicht mindestens einen Brief von ihr erhielt. Doch als Nora ins vorletzte Studienjahr kam, schrieb Brigid plötzlich nicht mehr. Anfangs schien das nicht sonderlich beunruhigend, aber nach drei, vier Monaten Funkstille fragte Nora Deirdre in einem Brief, ob sie in letzter Zeit mal wieder was von Brigid gehört habe. Als Deirdre antwortete, sie habe schon seit sechs Monaten nichts mehr von ihr gehört, begann Nora sich Sorgen zu machen. Sie sprach mit ihrem Vater darüber, und der arme O'Fallon, überwältigt von Schuldgefühlen wegen dem, was er seinen beiden älteren Töchtern angetan hatte, wollte die Sache wieder gutmachen und nahm umgehend Kontakt mit der Polizei in Los Angeles auf. Ein Kommissar namens Reynolds wurde mit dem Fall betraut. Die Nachforschungen liefen sofort an, und schon nach wenigen Tagen waren viele der wesentlichen Tatsachen ermittelt: dass Brigid ihre Arbeit bei der Zeitschrift gekündigt hatte, dass sie einen Selbstmordversuch begangen hatte und ins Krankenhaus gekommen war, dass sie schwanger gewesen war, dass

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