Das Buch der Illusionen
sie aus ihrer Wohnung ausgezogen war und keine Nachsendeadresse hinterlassen hatte, dass sie in der Tat verschwunden war. So trübe diese Neuigkeiten auch waren, so niederschmetternd es auch war, darüber nachzugrübeln, was diese Fakten zu bedeuten haben mochten, sah es dennoch so aus, als sei Reynolds kurz davor herauszufinden, was mit ihr passiert war. Dann aber wurde die Spur allmählich kalt. Ein Monat verging, dann drei Monate, dann acht Monate, und Reynolds hatte nichts Neues zu berichten. Er und seine Leute hätten mit allen gesprochen, die sie kannten, sagte er, sie täten wirklich ihr Möglichstes, aber nachdem sie Brigids Spur bis zum Fitzwilliam Arms verfolgt hätten, stünden sie vor einer Mauer. Enttäuscht vom Stocken der Ermittlungen, beschloss O'Fallon, wieder Schwung in die Sache zu bringen und die Dienste eines Privatdetektivs in Anspruch zu nehmen. Reynolds empfahl ihm Frank Stegman, und eine Zeit lang konnte O'Fallon wieder hoffen. Der Fall war sein ganzer Lebensinhalt, sagte Nora, und jedes Mal wenn Stegman auch nur die kleinste Neuigkeit, den winzigsten Hinweis auf irgendeine Spur zu melden hatte, nahm ihr Vater den nächsten Zug nach Los Angeles, notfalls auch den Nachtzug, und erschien dann gleich am nächsten Morgen in Stegmans Büro. Aber jetzt waren Stegman die Ideen ausgegangen, er war so weit, dass er aufgeben wollte. Hector hatte es selbst gehört. Darum sei es eben bei dem Telefonat gegangen, sagte sie, im Grunde könne sie ihm keine Vorwürfe machen, dass er aussteigen wolle. Brigid sei tot. Sie wisse das, Reynolds und Stegman wüssten es, aber ihr Vater wolle es immer noch nicht akzeptieren. Er gebe sich die Schuld an allem, und nur solange er noch hoffen könne, nur solange er sich betrügen und glauben könne, dass man Brigid doch noch finden werde, könne er überhaupt mit sich leben.
So einfach sei das, sagte Nora. Ihr Vater werde sterben. Der Schmerz sei zu groß für ihn, er werde umfallen und sterben.
Von diesem Abend an erzählte Nora ihm alles. Es war verständlich, dass sie ihre Sorgen mit jemandem teilen wollte, aber es gab doch so viele Menschen auf der Welt, so viele Kandidaten, unter denen sie wählen konnte, und ihre Wahl traf ausgerechnet auf Hector. Er wurde Noras Vertrauter, der Empfänger von Informationen über sein eigenes Verbrechen, und jeden Dienstag und Donnerstag, wenn er abends neben ihr auf der Couch saß und sich durch eine seiner Lektionen quälte, fühlte er ein wenig mehr von seinem Hirn zu Staub zerfallen. Das Leben war ein Fiebertraum, stellte er fest, und die Wirklichkeit eine bodenlose Welt aus Hirngespinsten und Halluzinationen, ein Ort, an dem alles, was man sich ausmalte, wahr wurde. Ob er Hector Mann kenne? Diese Frage stellte Nora ihm tatsächlich eines Abends. Stegman habe eine neue Theorie entwickelt, erzählte sie; zwar sei er vor zwei Monaten aus der Sache ausgestiegen, aber am Wochenende habe er O'Fallon angerufen und um eine zweite Chance gebeten. Er habe herausgefunden, dass Brigid einen Artikel über Hector Mann geschrieben habe. Elf Monate später sei Mann verschwunden, und er frage sich, ob es wirklich nur Zufall sei, dass Brigid um die gleiche Zeit verschwunden sei. Wenn es nun einen Zusammenhang zwischen den beiden ungelösten Fällen gebe? Stegman könne nichts versprechen, aber immerhin habe er jetzt einen Ansatzpunkt, und mit O'Fallons Erlaubnis werde er von dort aus weiterforschen. Wenn er nachweisen könnte, dass Brigid sich nach diesem Artikel weiter mit Mann getroffen hatte, gäbe es jedenfalls wieder einigen Grund, optimistisch zu sein.
Nein, sagte Hector, von dem habe er noch nie gehört. Wer sei dieser Hector Mann? Nora wusste auch nicht viel über ihn. Ein Schauspieler, sagte sie. Er habe vor einigen Jahren ein paar Stummfilme gemacht, aber sie habe keinen davon gesehen. Auf dem College habe sie keine Zeit fürs Kino gehabt. Ja, sagte Hector, er gehe auch nicht oft ins Kino. Das koste nur Geld, und außerdem habe er mal irgendwo gelesen, dass Filme schlecht für die Augen seien. Nora sagte, sie erinnere sich dunkel, von dem Fall gehört zu haben, habe ihn aber damals nicht so genau verfolgt. Steg-man zufolge werde Mann seit fast zwei Jahren vermisst. Und warum sei er verschwunden?, wollte Hector wissen. Das sei nicht bekannt, sagte Nora. Eines Tages sei er einfach verschwunden, und seitdem habe man nichts mehr von ihm gehört. Das klinge nicht sehr vielversprechend, sagte Hector. Kein Mensch könne sich ewig
Weitere Kostenlose Bücher