Das Buch der Illusionen
verstecken. Wenn man ihn bis jetzt nicht gefunden habe, sei er höchstwahrscheinlich tot. Ja, wahrscheinlich, stimmte Nora zu, und Brigid sei wahrscheinlich auch tot. Aber es gebe Gerüchte, fuhr sie fort, und denen wolle Stegman nachgehen. Was sind das für Gerüchte?, fragte Hector. Dass er nach Südamerika zurückgegangen sein könnte, sagte Nora. Da sei er nämlich her. Brasilien, Argentinien, welches Land genau, habe sie vergessen, aber es sei doch unglaublich. Wieso unglaublich?, fragte Hector. Dass Hector Mann aus derselben Gegend stammen solle wie er. Was denn dagegen spreche? Sie bedenke nicht, dass Südamerika ein sehr großes Land sei, sagte Hector. Südamerikaner seien überall.
Ja, das wisse sie, sagte Nora, aber trotzdem, wäre es nicht unglaublich, wenn Brigid mit ihm dorthin gegangen wäre? Allein die Vorstellung mache sie glücklich. Zwei Schwestern, zwei Südamerikaner. Brigid mit ihrem dort, sie mit ihrem hier.
Das wäre nicht so furchtbar gewesen, wenn er sie nicht so gern gehabt hätte, wenn nicht ein Teil von ihm sich vom ersten Tag an in sie verliebt hätte. Hector war sich bewusst, dass sie für ihn verboten war, dass auch nur der Gedanke an die Möglichkeit, sie zu berühren, eine unverzeihliche Sünde gewesen wäre, und doch kam er weiter jeden Dienstag und Donnerstag zu ihr ins Haus und starb jedes Mal einen kleinen Tod, wenn sie sich neben ihn auf die Couch setzte und ihren zweiundzwanzig Jahre alten Körper in die burgunderroten Velourspolster schmiegte. Es wäre so einfach gewesen, die Hand auszustrecken und ihren Hals zu streicheln, ihr mit den Fingern über den Arm zu streichen, sich zu ihr umzudrehen und die Sommersprossen auf ihrem Gesicht zu küssen. So grotesk ihre Gespräche zuweilen waren (Brigid und Stegman, der schlimme Zustand ihres Vaters, die Suche nach Hector Mann), noch viel schwerer war es für ihn, diesen Drang zu unterdrücken, und er brauchte seine ganze Energie, diese Grenze nicht zu überschreiten. Nach solchen qualvollen Stunden ging er nicht selten direkt vom Unterricht zum Fluss, wanderte durch die Stadt, bis er ein kleines Viertel aus verfallenden Häusern und zweistöckigen Hotels erreichte, wo man Frauen für zwanzig oder dreißig Minuten kaufen konnte. Das war eine erbärmliche Lösung, aber es gab keine Alternative. Keine zwei Jahre war es her, dass sich die attraktivsten Frauen von Hollywood darum geprügelt hatten, mit Hector ins Bett zu steigen. Jetzt bezahlte er dafür in den Seitengassen von
Spokane, verpulverte einen halben Tageslohn für ein paar Minuten Entspannung.
Hector kam nie auf die Idee, dass Nora etwas für ihn empfinden könnte. Er war eine Jammergestalt, ein Mann, den man gar nicht erst in Betracht zog, und wenn Nora bereit war, ihm so viel Zeit zu opfern, dann nur, weil sie ihn bemitleidete, weil sie jung und mitfühlend war und sich als Retterin verlorener Seelen sah. Die heilige Brigid, wie ihre Schwester sie genannt hatte, die Märtyrerin der Familie. Hector war der nackte afrikanische Eingeborene, und Nora war die amerikanische Missionarin, die sich durch den Dschungel gekämpft hatte, um sein Schicksal zu verbessern. Er hatte noch nie einen Menschen kennengelernt, der so unvoreingenommen, so optimistisch war und so wenig von den dunklen Mächten ahnte, die in der Welt ihr Wesen trieben. Manchmal fragte er sich, ob sie nicht einfach nur dumm sei. Manchmal auch schien sie ihm besessen von einer einzigartigen, vergeistigten Weisheit. Und manchmal, wenn sie ihn mit diesem eifrigen, unbeugsamen Ausdruck in den Augen anblickte, glaubte er, das Herz müsse ihm brechen. Das war das Paradoxe an dem Jahr, das er in Spokane verbrachte. Nora machte ihm das Leben unerträglich, und doch war Nora das Einzige, wofür er lebte, der einzige Grund, warum er nicht die Koffer packte und abreiste.
Die Hälfte der Zeit hatte er Angst, er würde ihr alles beichten. Die andere Hälfte der Zeit hatte er Angst, er würde geschnappt. Dreieinhalb Monate lang verfolgte Stegman die Sache mit Hector Mann, dann gab er wieder auf. Der Detektiv hatte versagt, wie die Polizei versagt hatte, aber damit war Hectors Lage keineswegs sicherer geworden. Im Herbst und Winter war O'Fallon mehrmals nach Los Angeles gefahren, und es war anzunehmen, dass Stegman ihm bei dieser Gelegenheit auch Fotos von Hector Mann gezeigt hatte. Was, wenn O'Fallon die Ähnlichkeit zwischen seinem fleißigen Lagergehilfen und dem verschwundenen Schauspieler aufgefallen wäre? Anfang Februar,
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