Das Buch der Illusionen
kurz nach der Rückkehr von seiner letzten Reise nach Kalifornien, fing O'Fallon an, Hector mit anderen Augen zu betrachten. Er schien irgendwie wachsamer, neugieriger, und Hector musste sich fragen, ob Noras Vater ihm nicht auf die Schliche gekommen war. Nach monatelangem Schweigen und kaum verhohlener Verachtung wandte der alte Mann dem bescheidenen Kistenschlepper, der sich im Hinterzimmer seines Ladens abmühte, plötzlich seine Aufmerksamkeit zu. Statt gleichgültig zu nicken, lächelte er jetzt, und ab und zu klopfte er seinem Angestellten scheinbar grundlos auf die Schulter und fragte, wie es ihm gehe. Noch bemerkenswerter: Wenn Hector zu seinem abendlichen Unterricht zu den O'Fallons kam, machte ihm jetzt der Alte persönlich die Tür auf. Er schüttelte ihm die Hand wie einem gern gesehenen Gast und blieb dann, etwas unbeholfen, aber offensichtlich in bester Absicht, noch ein wenig stehen, machte eine Bemerkung über das Wetter und zog sich erst dann nach oben in sein Zimmer zurück. Bei jedem anderen hätte man ein solches Verhalten für ganz normal gehalten, für das von der Höflichkeit geforderte Minimum, aber in O'Fallons Fall war es völlig verwirrend, und Hector betrachtete es mit Misstrauen. Zu viel stand auf dem Spiel, als dass er sich von einem höflichen Lächeln und netten Worten einwickeln lassen durfte, und je länger diese unechte Freundlichkeit anhielt, desto mehr steigerten sich Hectors Befürchtungen. Mitte Februar war ihm klar, dass seine Tage in Spokane gezählt waren. Man wollte ihm eine Falle stellen, und er musste jederzeit darauf gefasst sein, die Stadt zu verlassen, in die Nacht davonzulaufen und sein Gesicht für immer vor ihnen zu verbergen.
Und dann geschah etwas völlig Unerwartetes. Als Hector sich bereits seine Abschiedsrede für Nora zurechtgelegt hatte, ging O'Fallon eines Nachmittags im Hinterzimmer des Ladens auf ihn zu und fragte, ob er an einer Lohnerhöhung interessiert sei. Goines habe gekündigt, sagte er. Der Buchhalter gehe nach Seattle, um die Druckerei seines Schwagers zu übernehmen, und O'Fallon wolle die Stelle so schnell wie möglich besetzen. Er wisse, dass Hector keine Erfahrung im Handel habe, aber er habe ihn beobachtet, sagte er, er habe darauf geachtet, wie er mit der Arbeit fertig werde, und er sei überzeugt, er werde nicht lange brauchen, sich mit der neuen Aufgabe vertraut zu machen. Es kämen mehr Verantwortung und längere Arbeitszeiten auf ihn zu, aber dafür würde er auch doppelt so viel Lohn bekommen wie bisher. Ob er sich das überlegen wolle, oder könne er das sofort akzeptieren? Hector konnte sofort akzeptieren. O'Fallon schüttelte ihm die Hand, gratulierte ihm zur Beförderung und gab ihm für den Rest des Tages frei. Gerade als Hector jedoch den Laden verlassen wollte, rief O'Fallon ihn zurück. Mach die Kasse auf und nimm dir zwanzig Dollar, sagte der Boss. Dann gehst du zu Presslers Herrenschneiderei und kaufst dir einen neuen Anzug, ein paar weiße Hemden und eine Fliege. Du wirst jetzt vorne im Laden arbeiten, da musst du einen guten Eindruck machen.
Damit hatte O'Fallon das Geschäft praktisch auf Hector übertragen. Er hatte ihn zum Buchhalter ernannt, aber Tatsache war, dass Hector jetzt viel mehr war als das. Er trug die Verantwortung für den ganzen Laden, und O'Fallon, offiziell der Inhaber seines Unternehmens, trug keine mehr. Red verbrachte zu wenig Zeit im Geschäft, um sich mit belanglosen Kleinigkeiten abzugeben, und als er einmal begriffen hatte, dass dieser forsche ausländische Emporkömmling die Pflichten seines neuen Postens zu erfüllen wusste, kam er so gut wie gar nicht mehr. Er war des Ladens so überdrüssig, dass er sich nicht einmal den Namen des neuen Lagergehilfen merken wollte.
Als De-facto-Geschäftsführer von Red's Sporting Goods machte Hector eine ausgezeichnete Figur. Nach dem einsamen Jahr in der Fassfabrik in Portland und der Einzelhaft in O'Fallons Lagerraum begrüßte er die Chance, wieder unter Menschen zu kommen. Der Laden war wie ein kleines Theater, und die Rolle, die man ihm zugewiesen hatte, war im Wesentlichen die gleiche, die er auch in seinen Filmen gespielt hatte: Hector als gewissenhafter Befehlsempfänger, als flotter, Fliege tragender Angestellter. Nur mit dem Unterschied, dass er jetzt Herman Loesser hieß und keine Faxen machen durfte. Keine tollpatschigen Stürze, kein Gestolper, keine albernen Verrenkungen oder Schläge auf den Kopf. Kunden überzeugen, die Geschäftsbücher
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