Das Buch der Illusionen
tiefer in ihrer Schuld. Das macht mich sehr verlegen, was Sie mir da sagen.
Macht es Ihnen Spaß, sie leiden zu sehen?
Miss Nora? Leiden? Warum sollte sie denn leiden? Sie ist ein bemerkenswertes, temperamentvolles Mädchen, jedermann bewundert sie. Ich weiß, familiäre Sorgen belasten ihr Herz - und das Ihre auch, Sir -, doch abgesehen von den Tränen, die sie gelegentlich um ihre abwesende Schwester vergießt, habe ich sie stets nur in heiterster Stimmung erlebt.
Sie ist stark. Sie überspielt ihren Schmerz.
Es betrübt mich, das zu hören.
Albert Sweeney hat vorigen Monat um ihre Hand angehalten, und sie hat ihn abgewiesen. Was glauben Sie, warum sie das getan hat? Der Vater des Jungen ist Hiram Sweeney, der Senator dieses Bundesstaats, der mächtigste Republikaner in diesem County. Sie hätte die nächsten fünfzig Jahre in Saus und Braus leben können, und sie hat nein gesagt. Was glauben Sie, warum, Loesser?
Sie hat mir gesagt, dass sie ihn nicht liebt.
Richtig. Weil sie jemand anderen liebt. Und was glauben Sie, wer dieser andere ist?
Diese Frage kann ich unmöglich beantworten. Miss Noras Gefühle sind mir vollkommen unbekannt, Sir.
Sie sind doch nicht etwa schwul, Herman?
Wie bitte, Sir?
Schwul. Ein Homo.
Selbstverständlich nicht.
Warum unternehmen Sie dann nichts?
Sie sprechen in Rätseln, Mr. O'Fallon. Ich verstehe Sie nicht.
Ich kann nicht mehr, Herman. Es gibt nur noch eins, wofür ich lebe, und wenn diese eine Sache endlich erledigt ist, will ich in Ruhe abkratzen. Wenn Sie mir dabei helfen, bin ich bereit, ein Geschäft mit Ihnen zu machen. Sie brauchen nur ein Wort zu sagen, Amigo, und alles gehört Ihnen. Der Laden, das Geschäft, alles.
Sie wollen mir Ihr Geschäft zum Kauf anbieten? Ich habe kein Geld. Ich bin nicht in der Lage, mich auf derlei einzulassen.
Vorigen Sommer kommen Sie in den Laden geschlichen und bitten um Arbeit, und jetzt haben Sie sich ganz nach oben gearbeitet. Sie machen das gut, Loesser. Nora hat Sie richtig beurteilt, und ich werde mich ihr nicht in den Weg stellen. Ich stelle mich keinem mehr in den Weg. Was sie will, soll sie auch haben.
Warum fangen Sie dauernd von Miss Nora an? Ich denke, Sie wollen mir einen geschäftlichen Vorschlag machen.
Tu ich doch. Aber nur, wenn Sie mir in dieser einen Sache nachgeben. Ich bitte Sie ja nicht um etwas, das Sie nicht selber wollen. Ich sehe doch die Blicke, die ihr beide wechselt. Sie müssen nur endlich mal den ersten Schritt tun.
Wovon reden Sie, Mr. O'Fallon?
Das können Sie sich selbst ausrechnen.
Nein, wirklich, Sir. Das kann ich nicht.
Nora, Sie Dummkopf. Sie ist in Sie verliebt.
Aber ich bin doch nichts, ein Niemand. Nora kann mich nicht lieben.
Das denken Sie vielleicht, und ich vielleicht, aber da irren wir uns eben. Dem Mädchen bricht das Herz, und mich soll der Teufel holen, wenn ich weiter tatenlos zusehe, wie sie leidet. Ich habe schon zwei Kinder verloren, und das soll mir nicht noch einmal passieren.
Aber ich darf Nora nicht heiraten. Ich bin Jude, und so etwas ist uns nicht erlaubt.
Was für eine Art von Jude?
Ein Jude eben. Es gibt nur eine Art von Juden.
Glauben Sie an Gott?
Was macht das schon? Ich bin anders als Sie. Ich komme aus einer anderen Welt.
Beantworten Sie meine Frage. Glauben Sie an Gott?
Nein, tu ich nicht. Ich glaube, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist. Im Guten und im Schlechten.
Dann haben wir die gleiche Religion. Wir sind uns sehr ähnlich, Loesser. Nur mit dem Unterschied, dass Sie besser mit Geld umgehen können als ich. Und das heißt, Sie werden für sie sorgen können. Mehr will ich nicht. Sorgen Sie für Nora, dann kann ich in Frieden sterben.
Sie bringen mich in eine schwierige Lage, Sir.
Sie wissen nicht, was schwierig ist, Hombre. Sie machen ihr bis Ende des Monats einen Heiratsantrag, oder ich schmeiße Sie raus. Kapiert? Ich schmeiße Sie raus, und dann jage ich Sie eigenhändig aus dieser gottverdammten Stadt.
Hector ersparte ihm die Mühe. Vier Stunden nach dem Gespräch im Bluebell Inn schloss er den Laden zum letzten Mal hinter sich ab, kehrte dann in die Pension zurück und packte seine Sachen. Irgendwann an diesem Abend lieh er sich von seiner Vermieterin eine Schreibmaschine und tippte einen Brief an Nora, den er mit H. L. unterzeichnete. Er konnte es nicht riskieren, ihr eine Handschriftenprobe zu hinterlassen, aber er konnte auch nicht davonlaufen, ohne ihr eine Erklärung zu geben, ohne eine Geschichte zu erfinden, die sein
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