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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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gewesen, und er konnte nicht riskieren, erkannt zu werden. Seinen Teil der Abmachung zu erfüllen wäre schon schwierig genug, aber ganz unmöglich schien es ihm, dies im Zustand der Angst zu tun, wenn er sich bei jedem Auftritt Sorgen machen musste, dass jemand ihn mit seinem Namen ansprechen könnte. Das sei die einzige Bedingung, sagte er. Wenn er sein Gesicht verbergen dürfe, sei er dabei.
    Meers fand das rätselhaft. Seinen Schwanz wolle er aller Welt zeigen, und dann solle niemand sehen, wer er sei? Wenn sie ein Mann wäre, sagte sie, wäre sie stolz darauf, so ein Ding zu haben wie er. Dann sollten alle wissen, dass das ihr gehöre.
    Aber die Leute kämen doch nicht, um ihn zu sehen, sagte Hector. Sie sei der Star, und je weniger sich das Publikum mit ihm beschäftige, desto schärfer würden ihre Vorstellungen werden. Mit einer Maske vor dem Gesicht hätte er keine Persönlichkeit, nichts Individuelles, nichts, was die Phantasie der Männer stören könne, die ihnen zusähen. Die wollten nicht sehen, dass er es mit ihr treibe, sagte er, die wollten sich ausmalen, dass sie selbst es mit ihr trieben. Anonym werde er zu einem Motor männlichen Verlangens, zum Stellvertreter jedes Mannes im Publikum. Der geile Bock, der von der unersättlichen Mösenkönigin nie genug kriegen könne. Er stehe für jeden Einzelnen im Publikum. Sie aber sei stets einzigartig, sagte er, immer nur die eine Frau, und ihr Name sei Sylvia Meers.
    Meers ließ sich überzeugen. Es war ihre erste Lektion in der Taktik des Showbusiness, und auch wenn sie Hector nicht hundertprozentig verstand, hörten sich seine Erklärungen doch gut an, und es gefiel ihr, dass sie der Star sein sollte. Als er sie Mösenkönigin nannte, lachte sie laut auf. Woher er denn solche Ausdrücke habe?, fragte sie. Sie kenne keinen, der etwas so Schmutziges so schön sagen könne.
    Schmutz hat auch seine Reize, sagte Hector, sie mit Bedacht zurechtweisend. Wer kann einem Mann, der schon mit einem Bein im Grab steht, besser Gesellschaft leisten als eine heißblütige Frau? So stirbt er langsamer, und solange sein Fleisch mit ihrem Fleisch verbunden ist, kann er vom Geruch seiner eigenen Fäulnis leben.
    Wieder lachte Meers, ohne zu verstehen, was er meinte. Für sie klang das wie Bibelsprüche, wie die Reden von Priestern und Straßenpredigern, aber Hector deklamierte sein kleines Gedicht von Tod und Verfall mit so ruhiger Stimme, mit einem so freundlichen Lächeln auf den Lippen, dass sie glaubte, er rede im Scherz. Sie kam überhaupt nicht darauf, dass er ihr soeben seine intimsten Geheimnisse offenbart hatte, dass sie einen Mann vor sich sah, der vier Stunden zuvor auf dem Bett seines Hotelzimmers gesessen und sich zum zweiten Mal in dieser Woche einen geladenen Revolver an den Kopf gedrückt hatte. Hector war erleichtert. Er bemerkte ihren verständnislosen Blick und freute sich, an eine so dumme, unbedarfte Nutte geraten zu sein. Ganz gleich, wie viel Zeit er mit ihr verbringen würde, er wusste, dass er, wenn sie zusammen waren, immer allein sein würde.
    Meers war Anfang zwanzig, eine Farmerstochter aus South Dakota; mit sechzehn war sie von zu Hause fortgelaufen und ein Jahr später in Chicago gelandet, wo sie in dem Monat, als Lindbergh den Atlantik überquerte, zum ersten Mal auf den Strich gegangen war. Sie hatte nichts Anziehendes, nichts, was sie in diesem Augenblick von tausend anderen Huren in tausend anderen Hotelzimmern unterschieden hätte. Eine Wasserstoffblondine mit rundem Gesicht, glanzlosen grauen Augen und Spuren von Aknenarben auf den Wangen, hielt sie sich mit einer gewissen liederlichen Bravour, hatte aber so gar nichts Bezauberndes, keinen Charme, der das Interesse an ihr über längere Zeit wach halten konnte. Ihr Hals war im Verhältnis zum Körper zu kurz, ihre kleinen Brüste hingen ein wenig, und um Hüften und Hintern hatten sich bereits Fettpölsterchen entwickelt. Während sie über die Aufteilung der Einnahmen verhandelten (sechzig zu vierzig, was Hector mehr als großzügig fand), wandte er sich plötzlich ab, denn er spürte, er würde doch noch einen Rückzieher machen, wenn er sie weiter ansähe. Was ist los, Herm, fragte sie, geht's dir nicht gut? Doch, doch, sagte Hector, ohne den Blick von einem Riss in der Wand ihm gegenüber abzuwenden. Ich habe mich in meinem Leben noch nie so gut gefühlt. Ich bin so glücklich, ich könnte das Fenster aufreißen und wie ein Irrer auf die Straße hinunterschreien. So gut fühle ich

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