Das Buch der Illusionen
plötzliches, rätselhaftes Verschwinden rechtfertigte.
Er erzählte ihr, dass er verheiratet sei. Das war die dickste Lüge, die er sich denken konnte, aber auf lange Sicht war es weniger grausam als eine schroffe, offene Abweisung. Seine Frau sei in New York erkrankt, und er müsse sofort dorthin und sich um sie kümmern. Nora würde natürlich der Schlag treffen, aber wenn sie einmal begriffen hätte, dass es für sie beide nie eine Hoffnung gegeben hatte, dass Hector von Anfang an nicht zu haben gewesen war, würde sie sich von ihrer Enttäuschung erholen können, ohne dauerhafte Narben zurückzubehalten. O'Fallon würde das Märchen wahrscheinlich durchschauen, aber selbst wenn der Alte der Wahrheit auf die Spur kommen sollte, war zu bezweifeln, dass er Nora etwas davon sagen würde. Ihm lag daran, die Gefühle seiner Tochter zu beschützen, und warum sollte es ihn stören, dass dieser lästige Niemand, der sich ihre Zuneigung erschlichen hatte, plötzlich nicht mehr da war? Er wäre froh, Hector los zu sein, und wenn sich der Staub gelegt hätte, würde der junge Sweeney ganz allmählich wieder in der Vordergrund rücken, und Nora würde wieder Vernunft annehmen. Hector dankte ihr in seinem Brief für die vielen Gefälligkeiten, die sie ihm erwiesen hatte. Er werde sie niemals vergessen, schrieb er. Sie sei ein leuchtendes Beispiel, eine Frau, wie sie besser nicht sein könne, und sie für die kurze Zeit kennenzulernen, die er in Spokane gewesen sei, habe sein Leben für immer verändert. Alles wahr, und doch falsch. Jeder Satz eine Lüge, und doch jedes Wort mit Überzeugung hingeschrieben. Er wartete bis drei Uhr morgens, dann ging er zu ihrem Haus und schob den Brief unter die Tür - genau wie ihre tote Schwester Brigid ihm bei einer ähnlichen Gelegenheit vor zweieinhalb Jahren einen Brief unter die Tür geschoben hatte.
Am nächsten Tag versuchte er sich in Montana umzubringen, sagte Alma, und drei Tage danach versuchte er es in Chicago noch einmal. Beim ersten Mal schob er sich den Revolver in den Mund; beim zweiten Mal drückte er sich die Mündung ans linke Auge, konnte sich dann aber doch nicht überwinden. Er hatte sich ein Zimmer in einem Hotel in South Wabash am Rand von Chinatown genommen, und nach dem zweiten gescheiterten Versuch ging er in den schwülen Juniabend hinaus, um sich irgendwo zu betrinken. Er glaubte, er müsse sich nur genug Alkohol hineinschütten, dann fände er irgendwann im Lauf der Nacht den Mut, in den Fluss zu springen und sich zu ertränken. So war es jedenfalls geplant, aber kaum hatte er eine Kneipe angesteuert, stieß er auf etwas, das besser war als der Tod, besser als die simple Verdammnis, die er erstrebt hatte. Ihr Name war Sylvia Meers, und von ihr lernte Hector, dass er sich weiter töten konnte, ohne selbst Hand anlegen zu müssen. Sie brachte ihm bei, sein eigenes Blut zu trinken, sie unterwies ihn in der Kunst, sein eigenes Herz zu verschlingen.
Er begegnete ihr in einer Ginkneipe in der Rush Street, am Tresen, als er gerade das zweite Glas bestellen wollte. Eine Schönheit war sie nicht, aber der Preis, den sie nannte, war so gering, dass Hector ohne Weiteres einwilligte. Morgen früh wäre er ohnehin längst tot, und was wäre angemessener, als die letzten Stunden auf der Erde mit einer Hure zu verbringen?
Sie führte ihn über die Straße ins White House Hotel, und als sie die Sache auf dem Bett hinter sich gebracht hatten, fragte sie ihn, ob er Lust habe, es noch einmal zu versuchen. Hector lehnte ab, er sagte, für eine zweite Nummer habe er kein Geld mehr, aber als sie erklärte, das koste nichts extra, sagte er achselzuckend: Na schön, und bestieg sie ein zweites Mal. Die Zugabe endete bald mit einer zweiten Ejakulation, und Sylvia Meers lächelte. Sie gratulierte Hector zu seiner Leistung, und dann fragte sie, ob er das Zeug habe, es noch einmal zu tun. Nicht sofort, sagte Hector, aber wenn sie ihm eine halbe Stunde Zeit lassen könne, wäre es wahrscheinlich kein Problem. Das reiche ihr nicht, sagte sie. Wenn er es in zwanzig Minuten schaffe, würde sie ihn noch mal ranlassen, aber er müsse in zehn Minuten wieder steif sein. Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. In genau zehn Minuten, sagte sie, als der Sekundenzeiger über die Zwölf ging. Abgemacht? Zehn Minuten, bis er wieder bereit sei, und dann noch einmal zehn Minuten bis zum Höhepunkt. Falls er jedoch unterwegs schlappmachen sollte, würde er für das letzte Mal bezahlen müssen. Zur
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