Das Buch der Lebenskunst
dem man sich mit Gleichgesinnten traf und darin die Erfüllung des eigenen Daseins erfuhr. Wie Chateaubriand es ausdrückt, zog man sich „mit einem vollen Herzen in einer leeren Welt“ in die Freundschaft zurück. Freundschaft wurde zum Ort, an dem man sich daheim fühlte. Was die Menschen damals erlebten, trifft auch auf unsere Zeit zu. Gerade in der Anonymität unserer Zeit braucht es Orte der Heimat, Orte, an denen ich zu Hause sein kann. Auch heute gilt: Dort, wo Freunde sind, entsteht Heimat.
WEGBEGLEITER
Ein japanisches Sprichwort sagt: „Mit einem Freund an der Seite ist kein Weg zu lang.“ Der Freund an der Seite gibt uns Kraft, weiterzugehen, auch wenn die Schwierigkeiten von allen Seiten auf uns einstürmen. Er hält uns, nicht aufzugeben, wenn wir mit dem Rücken an der Wand stehen. Er motiviert uns, den Kampf des Lebens zu wagen. Ohne Freund sind wir in Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Wenn ich weiß, dass mein Freund zu mir steht, dann relativieren sich die Probleme. Ohne Freund hätte ich schon manchmal gesagt: „Macht euren Dreck alleine!“ Aber ich weiß genau, dass ich mir und den Menschen, für die ich verantwortlich bin, mit dieser Reaktion keinen Gefallen getan hätte. Das Gespräch mit dem Freund lässt mich schnell meine eigenen Lebensmuster durchschauen. Ich spüre, wenn ich in eine Sackgasse rennen würde. Der Freund bewahrt mich davor. Er gibt mir den langen Atem, den ich brauche, um meinen Weg zu Ende zu gehen.
BESCHWINGT
Die seit ihrer frühen Jugend gelähmte Schriftstellerin Zenta Maurina hat die Freunde als Quelle ihres Lebens erfahren, als Quelle auch der Kraft, dieses behinderte Leben in einer guten Weise zu meistern: „Was für den Vogel die Kraft der Schwingen, das ist für den Menschen die Freundschaft; sie erhebt ihn über den Staub der Erde.“ In der Tat: Der Freund an der Seite ist wie ein Vogel, der mich auf dem beschwerlichen Weg meines Lebens emporhebt, damit ich leichten Schrittes den Weg weitergehen kann, ohne über jeden Stein zu stolpern, der sich mir in den Weg legt. Das Gespräch mit dem Freund relativiert die Probleme und lässt sie mich in einem anderen Licht sehen. Sie sind nicht mehr so bedrohlich. Die Nähe des Freundes wird zu einem Schutz vor den negativen Emotionen, die mir von außen entgegenkommen. Sie wiegt all das Schwere auf, das täglich auf mich einstürmt.
FLUSS DER GEFÜHLE
Es ist keineswegs selbstverständlich, dass Freundschaft gelingt. Georges Bernanos bezeichnet die Langeweile als die größte Gefahr: „Keine Freundschaft vermag der Langeweile zu widerstehen.“ Wenn sich Freunde nichts mehr zu sagen haben, wenn sie sich an sich gewöhnt haben, aber nicht mehr offen sind für etwas, das sie übersteigt, dann wird die Langeweile die Freundschaft töten. Es fließt nichts mehr zwischen den Freunden. Die Freundschaft vertrocknet, versandet. Langeweile entsteht immer dann, wenn die Quelle der Phantasie und Kreativität versiegt. Oft besteht die Ursache dafür darin, dass man die eigenen Gefühle vor dem andern verschließt. Je mehr man aber an Gefühlen zurückhält, desto weniger kann in uns und zwischen uns strömen. Wir verhärten uns immer mehr. Und diese Härte wird zur Langeweile. Wir öden uns an, anstatt voller Begeisterung uns all das zu erzählen, was wir spüren und erleben.
Wer ständig beschäftigt ist, wer sich in die Arbeit flüchtet, der hat nicht nur keine Zeit zur Freundschaft, sondern er wird auch unfähig, einem andern Freund zu sein. Nicht die Erfolgreichen sind die besten Freunde, sondern die vom Schicksal Benachteiligten, die sich ihrer eigenen Gefährdung stellen, die sich ihrer Grenzen und Schwächen bewusst sind. Freundschaft braucht Offenheit für den andern. Wer seine Gefühle mit Aktivitäten zustopft, wird unfähig, sie mit dem Freund zu teilen. Wer aber nichts mehr zu teilen hat, kann keines Menschen Freund sein. Genießen kann die Freundschaft nur, wer sich seiner eigenen Armut stellt.
So hat es Johann Wolfgang von Goethe erfahren: „Nur uns Armen, die wir wenig oder nichts besitzen, ist es gegönnt, das Glück der Freundschaft in reichem Maße zu genießen. Wir haben nichts als uns selbst. Dieses ganze Selbst müssen wir hingeben.“
GLEICHHEIT
„Jedes zu große Übergewicht von einer Seite stört die Freundschaft“, sagt Adolf Freiherr von Knigge. Wenn der eine Freund sich als Helfer, Therapeut, Gönner des anderen gibt, dann zerstört das die Freundschaft.
Freundschaft
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