Das Buch der Lebenskunst
dem Kleinen Prinzen von de Saint-Exupery. Das Herz sieht gut. Und indem es gut sieht, entdeckt es das Gute im andern. Wer mit einer schwarzen Brille auf den andern sieht, wird nur das Dunkle in ihm wahrnehmen. Das Lichte und Helle, das Gute und Milde wird er übersehen. Nur wenn ich mit meinem Herzen auf meinen Nachbarn sehe, werde ich ihm gerecht. Aber die Voraussetzung ist, dass mein Herz gut ist, dass ich die destruktiven Gedanken nicht in mein Herz lasse. Wessen Herz eine Mördergrube ist, der kann auch nicht gut sehen und das Gute im andern erkennen.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Die Augen sehen die Oberfläche. Sie nehmen wahr, wie die Gesichtszüge des andern sind. Sie nehmen den Ärger wahr, die Unzufriedenheit, die Verschlossenheit, die Härte, den Gram und das Leid. Das Herz sieht tiefer. Es sieht hinter das Antlitz eines Menschen. Es sieht in sein Herz. Und im Herzen eines jeden Menschen erkennt es die Sehnsucht, gut zu sein, im Frieden mit sich und der Welt zu sein, die Sehnsucht, sich und sein beschädigtes Leben Gott hinzuhalten und in Gott Heilung zu finden und in Einklang zu kommen mit sich selbst.
Das Wesentliche eines Menschen ist unsichtbar. Aber auch das Wesentliche der Welt.
Lebenskunst besteht darin, mit dem Herzen zu sehen. Nur wenn ich mit dem Herzen sehe, begegne ich in der Blume der Schönheit ihres Schöpfers und im Baum meiner eignen Sehnsucht, fest verwurzelt zu sein in einem tieferen Grund. Nur dann empfinde ich sogar beim Anblick eines Baumes die Sehnsucht, so in meine Gestalt hineinzuwachsen und so aufzublühen, dass andere in meinem Schatten Geborgenheit und in meiner Nähe Trost finden.
Nur das Herz sieht in allem die Spuren jener letzten Wirklichkeit und Gewissheit, die mich aus dem Antlitz jedes Menschen und aus jedem Stein und jedem Grashalm anblickt, um mir zu sagen: „Du bist geliebt.
Die Liebe umgibt dich in allem, was du siehst.“
NICHT FESTHALTEN
„Liebe lässt sich nur bewahren, indem man sie verschenkt: Ein Glück, das wir für uns allein suchen, ist nirgends zu finden, denn ein Glück, das sich verringert, wenn wir es mit anderen teilen, ist nicht groß genug, um uns glücklich zu machen.“ Der wohl bekannteste Mönch des 20.
Jahrhunderts hat diese Einsicht formuliert: Thomas Merton.
Und doch: Ich erlebe immer wieder viele Menschen, die es als ihre wichtigste Aufgabe ansehen, sich von andern abzugrenzen. Sie haben eine heillose Angst, dass sie einmal ausgenutzt werden könnten, dass sie sich mit ihrem Einsatz für andere überfordern. Doch wer so ängstlich nur auf seine Abgrenzung blickt, wird nie die Liebe erfahren, zu der er fähig ist.
Die Liebe will fließen. Und nur wenn sie fließt, kann ich sie spüren. Ich kann die Liebe nicht in einem verschlossenen Gefäß aufbewahren. Dann würde sie schnell verderben. Natürlich braucht die Liebe auch die Grenze.
Denn wir sind nicht Gott. Wir können nicht unbegrenzt lieben. Aber wir haben teil an der Unbegrenztheit der göttlichen Liebe. Wenn unsere Liebe aus der Quelle der göttlichen Liebe strömt, dann fließt sie aus uns heraus, ohne dass wir uns verausgaben. Dann wird sie sogar stärker, wenn sie von uns auf andere fließt. Wir bekommen etwas zurück, ohne dass wir das bezwecken. Wer nur liebt, damit er geliebt wird, fühlt sich bald verausgabt. Wer jedoch der Liebe traut, die in ihm strömt, der wird beschenkt, wenn er sie weiterschenkt.
Nur solch verströmende Liebe macht den Menschen glücklich. Das Glück, das ich festhalten, das ich für mich allein reservieren muss, ist kein wirkliches Glück. Thomas Merton weiß im Einklang mit allen Weisen dieser Welt, dass ein Glück, das nicht mit andern geteilt werden kann, zu Wein ist, um uns wirklich glücklich zu machen. Glück braucht immer auch eine innere Weite und Freiheit, ein Strömen und Fließen des Lebens und der Liebe. Alles egoistische Festhalten zerstört das Glück.
NICHT KLAMMERN
„Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben.“ Dieser Satz steht im Evangelium des Johannes (Joh 12,240- Wir müssen demnach uns und unsere Vorstellungen vom Leben loslassen, dann wird sich uns ein Raum von neuen Möglichkeiten auftun. Wir müssen den Nächsten loslassen, dann wird wirkliche Beziehung möglich. Wenn sich in einer Partnerschaft einer am anderen festklammert, wird die Beziehung auf die Dauer unmöglich. Eine Partnerschaft kann nur bestehen, wenn
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