Das Buch der Schatten 2
Gesicht, und in diesem Augenblick sah ich ein großes, an den Rändern eingerolltes Ahornblatt, das träge zur Erde schwebte. Ohne lange zu überlegen, fing ich es mit meinem Geist auf und ließ es über Ravens Kopf segeln. Ich fixierte es mit meinem Blick und hielt es an Ort und Stelle, sodass es über ihrem schimmernd schwarzen Haar schwebte.
Dann ließ ich es ganz zart auf ihren Kopf niedersinken, wo es zum grotesken, lächerlichen Hut wurde.
Ich lachte offen heraus, zufrieden mit mir, und Raven kniff die Augen zusammen, denn sie verstand nicht, worüber ich mich so amüsierte. Sie spürte das große Blatt nicht, das wie ein flacher brauner Pfannkuchen auf ihrem Kopf lag, aber es sah wirklich albern aus.
Jenna entdeckte es als Nächste, und dann blickte unser ganzer Hexenzirkel grinsend auf Raven, nur Cal nicht.
»Was denn?«, fuhr Raven auf. »Was glotzt ihr denn so?«
Selbst Bree musste sich ein Grinsen verkneifen, als sie das Blatt von Ravens Kopf fegte. »Es war nur ein Blatt«, sagte sie.
Nervös nahm Raven ihre schwarze Tasche und in diesem Augenblick klingelte es zur ersten Stunde.
Wir standen auf und gingen in unsere Klassen. Ich lächelte immer noch, als Cal sich über mich beugte und flüsterte: »Vergiss nicht das Gesetz des Dreifachen.« Sanft berührte er meine Wange und dann wandte er sich ab und eilte zu dem anderen Schuleingang und zu seinem Unterricht.
Ich schluckte. Dass Gesetz des Dreifachen war einer der wichtigsten Grundsätze von Wicca. Im Grunde besagte es, dass alles, was man säte, gut oder böse, dreifach zu einem zurückkehrte, also sollte man stets Gutes tun.
Cal wollte mir mit diesem Hinweis sagen, dass er zum einen wusste, dass ich den Flug des Blatts kontrolliert hatte, und dass er zum anderen wusste, dass ich es in gemeiner Absicht getan hatte. Und dass es überhaupt nicht cool war.
Ich atmete tief durch und zog den Riemen meines Rucksacks über die Schulter.
Sobald Cal außer Hörweite war, sagte Raven gehässig : »Okay, er gehört dir … vorerst. Aber was glaubst du, wie lange das geht?«
»Ja«, raunte Bree. »Warte nur, bis er rausfindet, dass du Jungfrau bist. Das wird er ziemlich lustig finden.«
Meine Wangen brannten. Plötzlich stand mir das Bild vor Augen, wie ich am Vortag zusammengezuckt war, als er die Hand unter mein Hemd geschoben hatte.
Raven zog die Augenbrauen hoch. »Sag bloß, sie ist noch Jungfrau?«
»O Raven, lass gut sein«, sagte Beth und schob sich an ihr vorbei. Eine Sekunde lang sah Raven ihr überrascht hinterher, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir zu.
Bree und Raven lachten zusammen und ich starrte Bree an. Wie konnte sie so etwas Persönliches in der Öffentlichkeit breittreten? Ich hielt den Mund eisern geschlossen und ging in den Lern-Aufenthaltsraum – in dem natürlich auch Bree die nächste Stunde verbrachte.
»Komm, Raven«, sagte Bree hinter mir. »Wer sie ansieht, sieht doch gleich, dass das nicht der Grund ist, warum er sie will.«
Ich konnte es nicht fassen. Bree, die mir immer gesagt hatte, ich sei zu negativ, was mein Aussehen anging, die darauf bestand, mein flacher Busen sei nicht wichtig, die über Jahre daran gearbeitet hatte, dass ich mich attraktiv fand. Und jetzt stellte sie sich dermaßen gegen mich.
»Du weißt, was es ist, nicht wahr?«, feuerte Raven aus dem Hinterhalt weiter. Ahnten die beiden, dass ich kurz davor war, sie umzubringen? »Cal hat sie gesehen und es war Hexerei auf den ersten Blick. «
Ich lief in die Klasse und hörte das Echo ihres Gelächters hinter mir her wehen. Diese Miststücke, dachte ich voller Zorn. Geschlagene zehn Minuten saß ich in der Klasse und hatte Mühe, meine Atemzüge zu beruhigen und meine Wut abzuschütteln.
Einen kurzen Augenblick war ich froh, dass ich das Blatt auf Ravens Kopf platziert hatte. Ich hätte noch zehnmal gemeiner sein sollen. Ich konnte nicht anders. Ich wollte Bree und Raven Schaden zufügen. Ich wollte sie unglücklich sehen.
6
SUCHE
9. Januar 1980
Gestern Abend ist Morag Sheehans Leiche gefunden worden. Unten am Fuß der Klippe hinter dem Hof des alten Towson. Die Flut hätte sie mitgenommen, und wir hätten nichts gemerkt, aber wegen des Mondes war Ebbe. Und so haben die Jungen Billy Martin und Hugh Beecham sie gefunden.
Zuerst dachten sie, sie wäre ein verbrannter, morscher Schiffsmast. Doch das war sie nicht. Sie war nur eine verbrannte Hexe.
Natürlich hat sich Belwicket vor dem Morgengrauen getroffen. Wir hängten von innen
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