Das Buch der Schatten 2
nicht, jemand hätte es mir sagen sollen? Vielleicht nur mal erwähnen? Du hättest
doch etwas sagen können, oder? Vielleicht hast du es aber auch als nicht so besonders wichtig erachtet«, fuhr ich fort. Ich wusste, dass das nicht fair war. Aber irgendwie konnte ich auch nicht mehr aufhören. »Niemand scheint es wichtig zu finden. Schließlich reden wir hier ja nur über mein Leben.«
»Morgan«, sagte Mom niedergeschlagen.
»Ähm … «, meinte Tante Eileen nur, dieses eine Mal sprachlos.
Die anderen waren genauso verlegen wie ich und die festliche Stimmung hatte sich im Nu in Luft aufgelöst.
»Macht nichts«, sagte ich abrupt und stand auf. »Wir können später darüber reden. Warum nicht? Nach sechzehn Jahren, was sind da schon ein paar Tage?«
»Morgan, ich hatte immer das Gefühl, deine Eltern sollten diejenigen sein, die es dir sagen … «, sagte Tante Eileen unglücklich.
»Ja, richtig«, erwiderte ich barsch. »Und wann sollte das sein?«
Mary K. keuchte auf und ich schob polternd meinen Stuhl zurück. Ich ertrug es nicht, noch eine Sekunde länger in diesem Raum zu sein. Ihre Scheinheiligkeit war einfach unerträglich. Gleich würde ich explodieren.
Diesmal dachte ich daran, mir meine Jacke zu schnappen, bevor ich hinaus zu meinem Auto lief und in die Dunkelheit fuhr.
9
HEILENDES LICHT
St. Patrick’s Day, 1981
O Jesus, Maria und Josef, ich bin so betrunken, dass ich kaum schreiben kann. Ballynigel hat die beste St.-Paddys-Party aller Zeiten geschmissen. Alle Einwohner des Ortes, wirklich alle, haben sich versammelt, um sich im Dorf so richtig zu amüsieren. Menschen oder Hexen, am St. Paddys Tag sind wir uns alle einig, dass Grün getragen wird.
Pat O’Hearn hat sein Bier grün eingefärbt, und es lief in Becher, Eimer und Schuhe, in alles, was man sich nur vorstellen kann. Der alte Towson hat sogar seinem Esel was gegeben und der Esel war noch nie besonders zahm oder gutmütig! Ich habe gelacht, bis ich Seitenstechen hatte.
Die Irish Cowboys haben den ganzen Nachmittag auf der Dorfwiese Musik gemacht und wir haben alle getanzt und einander gezwickt und die Kinder haben mit Kohlköpfen und Kartoffeln geworfen. Wir hatten einen guten Tag. Unsere finsteren Zeiten scheinen ein für alle Mal vorbei zu sein.
Jetzt bin ich zu Hause, und ich habe der Göttin drei grüne Kerzen angezündet, für Wohlstand und Glück.
Heute Nacht ist Vollmond, also muss ich nüchtern werden, mich warm anziehen und meine Kräuter sammeln gehen. Der Krause Ampfer unten am Teich ist so weit, dass er geerntet werden kann, und es gibt frühe Veilchen und Löwenzahn und auch der Schachtelhalm ist so weit. Bis dahin darf ich kein Bier mehr trinken, sonst finden sie mich noch bäuchlings im Sumpf, zu betrunken, um aufzustehen! Was für ein Tag!
– Bradhadair
Ich fuhr und fuhr, doch irgendwann ging mir auf, dass ich am Montagabend um acht Uhr in Widow’s Vale, New York, nirgendwohin konnte. Ich stellte mir vor, wie ich mit tränenüberströmtem Gesicht in Schweikhardt’s Limo-Bar in der Main Street hineinspazierte. Ich stellte mir vor, wie ich in diesem Zustand bei Janice auftauchte. Nein … Janice hatte keine Ahnung, wie kompliziert mein Leben geworden war. Robbie?, überlegte ich einen Augenblick, schüttelte dann jedoch den Kopf. Ich war nicht gern bei ihm zu Hause, wo sein Vater sich vor dem Fernseher ein Bier nach dem anderen reinzog und seine Mutter schmallippig und zornig herumschlich. Und zu Bree zu fahren kam erst recht nicht infrage – Himmel, sie war heute ein echtes Miststück gewesen.
Cal? Ich wendete und fuhr in sein Viertel. Ich war verzweifelt und wagemutig, tapfer und verängstigt zugleich.
War es unverschämt, um diese Zeit uneingeladen bei ihm aufzutauchen? Mir ging so vieles durch den Kopf – die Geschichte meiner leiblichen Eltern, die Weigerung meiner Adoptiveltern, mir die Wahrheit über meine Vergangenheit zu erzählen, Bree – es war einfach zu viel, um vernünftig darüber nachzudenken. Ich hatte das Gefühl, keine Entscheidung über gar nichts fällen zu können – nicht einmal darüber, ob es in Ordnung war, wenn ich unangekündigt zu Cal fuhr.
Als ich die lange, kopfsteingepflasterte Einfahrt zu Cals großem Steinhaus hochfuhr, war ich völlig durcheinander. Was machte ich hier? Am liebsten wäre ich für immer durch die Nacht gefahren, weit weg von allen, die ich kannte. Am liebsten wäre ich ein anderer Mensch gewesen. Ich konnte nicht glauben, dass dies mein Leben
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