Das Buch der Schatten 2
lächelte und dann richtete ihr Blick sich mitfühlend auf mich. »Du siehst aus, als ginge es dir nicht besonders gut. «
Das war leicht untertrieben, aber ich nickte. »Hat Cal … Ihnen von … meiner Geschichte erzählt?«
Sie stellte ihren Becher ab. »Er hat mir erzählt, dass du kürzlich erfahren hast, dass du adoptiert wurdest«, sagte sie. »Dass deine leiblichen Eltern Bluthexen sein müssen. Und heute Nachmittag hat er mir erzählt, dass du glaubst, womöglich die Tochter von zwei irischen Hexen zu sein, die vor sechzehn Jahren hier ums Leben gekommen sind.«
Ich nickte noch einmal. »Nicht hier direkt … in Meshomah Falls. Ungefähr zwei Stunden von hier. Ich glaube, dass meine Mutter Maeve Riordan hieß.«
Selenes Miene wurde ernst. »Ich habe die Geschichte gehört«, sagte sie. »Ich erinnere mich noch daran. Ich war damals vierzig, Cal war noch nicht ganz zwei. Ich weiß noch, dass ich damals dachte, mir, meinem Mann oder unserem Kind könnte so etwas nie passieren. « Ihre langen Finger fuhren über den Rand ihres Bechers. »Heute weiß ich das besser.« Sie sah mich wieder an. »Es tut mir schrecklich leid, dass dir das passiert ist. Es ist immer irgendwie schwierig, anders zu sein, auch wenn man viel Unterstützung hat. Man ist trotzdem immer noch anders. Aber ich weiß, dass du es im Augenblick besonders schwer hast.«
Es fühlte sich an, als wollte meine Kehle sich wieder zuschnüren, und ich trank rasch noch einen Schluck Kakao. Ich wagte es nicht, ihr zuzustimmen, und lenkte mich mit unwichtigen Einzelheiten ab: Wenn sie vor sechzehn Jahren vierzig gewesen war, dann war sie jetzt sechsundfünfzig. Sie sah aber eher aus wie fünfunddreißig.
»Wenn du möchtest«, sagte Selene zögerlich, »kann ich dir helfen, damit es dir besser geht.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich. Verstört überlegte ich einen Augenblick, ob sie mir etwa Drogen anbieten wollte.
»Nun, ich greife Wellen aus Verunsicherung, Zerwürfnissen, Unglücklichsein und Zorn auf«, sagte sie. »Wir könnten zu zweit einen kleinen Kreis machen und versuchen, dir zu helfen.«
Ich schnappte nach Luft. Bis jetzt hatte ich nur mit Cal und unserem Hexenzirkel Kreisrituale gemacht. Wie würde es mit jemandem sein, der noch stärkere magische Kräfte besaß als er? Doch ich sagte: »Ja, gern, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Selene lächelte und dabei sah sie Cal sehr ähnlich. »Dann komm.«
Der Grundriss des Hauses war ein U mit einem Mittelteil und zwei Flügeln. Sie führte mich den linken Flügel hinunter in einen sehr großen Raum, den sie wohl für die Kreisrituale ihres Hexenzirkels benutzte. Dort öffnete sie in der Wandverkleidung eine Tür, die man
kaum sehen konnte. Mich durchfuhr reines, kindliches Entzücken – eine Geheimtür!
Wir betraten einen viel kleineren, gemütlicheren Raum, in dem nur ein niedriger Tisch, ein paar Bücherregale und Wandleuchten mit Kerzen waren. Selene zündete die Kerzen an.
»Dies ist mein privates Sanktuarium«, sagte sie und fuhr mit den Fingern über den Türrahmen. Für einen flüchtigen Augenblick sah ich Sigillen dort aufschimmern. Sie mussten für Privatheit oder Schutz sein. Doch ich hatte keine Ahnung, wie sie zu lesen waren. Ich musste noch so viel lernen. Ich war eine blutige Novizin.
Selene zog einen kleinen Kreis auf dem Holzfußboden, wozu sie ein rötliches Pulver benutzte, das einen starken, würzigen Duft verströmte. Sie bedeutete mir, zu ihr in den Kreis zu treten, und dann schloss sie ihn hinter uns.
»Setzen wir uns«, sagte sie. Wir setzten uns im Schneidersitz einander gegenüber auf den Boden und dann war nur noch sehr wenig Platz im Kreis.
Wir streuten Salz um unseren jeweiligen Halbkreis und sagten: »Mit diesem Salz reinige ich meinen Kreis.«
Dann schloss Selene die Augen und ließ den Kopf sinken, die Hände auf den Knien, als würde sie Yoga machen. »Lass mit jedem Ausatmen ein negatives Gefühl los. Nimm mit jedem Einatmen weißes Licht in dir auf, heilendes Licht, tröstendes und beruhigendes
Licht. Spür, wie es durch deine Finger eintritt, deine Zehen, wie es sich in deinem Bauch ausbreitet, hinaufsteigt bis in den Kopf.«
Ihre Stimme wurde mit jedem Wort langsamer, tiefer, hypnotisierender. Meine Augen schlossen sich, mein Kinn ruhte praktisch auf dem Brustbein. Ich atmete aus, drückte alle Luft aus der Lunge. Dann atmete ich ein und lauschte auf ihre tröstlichen Worte.
»Ich lasse alle Spannung los«, murmelte sie, und ich wiederholte
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