Das Buch der Schatten 2
es, ohne zu zögern.
»Ich lasse Angst und Zorn los«, sagte sie, und ihre Worte trieben auf einem ruhigen Meer zu mir. Ich wiederholte sie und spürte förmlich, wie sich die Knoten in meinem Bauch auflösten, die Spannung in meinen Armen und Waden schwand.
»Ich lasse Unsicherheit los«, sagte sie, und ich sprach ihr nach.
Wir atmeten schweigend einige Minuten tief ein und aus. Meine Kopfschmerzen verschwanden, meine Schläfen hörten auf zu pochen, meine Brust wurde weiter und ich konnte leichter atmen.
»Ich fühle mich ruhig«, sagte Selene.
»Ich auch«, stimmte ich ihr träumerisch zu.
»Nein, sag es«, drängte sie mit einem Lächeln in der Stimme.
»Oh. Ich fühle mich ruhig.«
»Öffne die Augen. Mach dieses Zeichen mit der rechten
Hand«, sagte sie und zeichnete es mit zwei Fingern in die Luft. »Das ist die Rune für Trost.«
Ich sah ihr zu und zeichnete dann sorgfältig eine senkrechte Linie in die Luft und dann ein kleines Dreieck oben dran, wie eine kleine Flagge.
»Ich fühle mich in Frieden«, sagte sie und zeichnete mir die Rune auf die Stirn.
»Ich fühle mich in Frieden«, sagte ich und spürte, wie ihre Finger über meine Haut strichen. Die Erinnerung, was meinen leiblichen Eltern widerfahren war, zog sich in die Ferne zurück. Ich wusste darum, aber es besaß nicht mehr die Macht, mich zu verletzen.
»Ich bin Liebe. Ich bin Frieden. Ich bin Kraft.«
Ich wiederholte die Worte und spürte, wie ich von einer wunderbaren Wärme eingehüllt wurde.
»Ich rufe die Kraft von Göttin und Gott an. Ich rufe die Kraft der Mutter Erde an«, sagte Selene und zeichnete mir eine weitere Rune auf die Stirn. Diese fühlte sich an wie die Hälfte eines schiefen Rechtecks, und als es sich auf meine Haut senkte, dachte ich: Kraft.
Selene und ich waren verbunden. Ich spürte ihre Kraft in meinem Kopf, spürte, wie sie quasi sämtliche Falten in meinen Gefühlen glatt strich, jeden Knoten aus Angst suchte, jedes zornige Gewirr. Sie stocherte tiefer und tiefer und träge ließ ich sie gewähren. Sie vertrieb den Schmerz, bis ich fast in Trance geriet.
Ewigkeiten später schien ich wieder wach zu werden.
Unaufgefordert öffnete ich die Augen, gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass sie den Kopf hob und ebenfalls die Augen aufschlug. Ich fühlte mich ein bisschen groggy, aber sehr viel besser, und ich lächelte. Sie erwiderte mein Lächeln.
»Geht’s dir jetzt besser?«, fragte sie leise.
»O ja«, sagte ich, denn ich konnte meine Gefühle nicht in Worte fassen.
»Hier ist noch etwas für dich«, sagte sie und zeichnete zwei Dreiecke auf die Rückseite meiner Hand. »Das steht für Neuanfang.«
»Danke«, sagte ich, voller Ehrfurcht vor ihren magischen Kräften. »Ich fühle mich wirklich viel besser.«
»Gut.« Wir standen auf, und sie zerstreute den Kreis und blies die Kerzen aus, die überall in dem kleinen Zimmer standen. Als wir durch den größeren Raum für den Hexenzirkel gingen, sah ich das Spiegelbild von Selenes Gesicht in einem großen goldenen Wandspiegel. Sie lächelte. Ihr Gesicht strahlte, fast ein wenig triumphierend. Dann war das Bild verschwunden, und ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet.
An der Haustür tätschelte sie mir den Arm und ich bedankte mich noch einmal. Dann schwebte ich förmlich zu meinem Auto, ohne den Novemberwind oder die nächtliche Kühle zu spüren. Den ganzen Heimweg fühlte ich mich absolut perfekt. Ich dachte nicht einmal mehr darüber nach, wo eigentlich Cal war.
10
ENTZWEIUNG
14. August 1981
Es heißt, der Hexenzirkel drüben bei Much Bencham hat drei neue Schüler. Wir haben keine. Tara und Cliff waren die Letzten, die Belwicket als Schüler beigetreten sind, und das war vor drei Jahren. Bis Lizzie Sims in vier Jahren vierzehn wird, haben wir niemanden. Natürlich nehmen sie bei Much Bencham so gut wie jeden auf, der lernen will.
Ich finde, wir sollten das auch so handhaben – falls wir je jemanden überzeugen können, sich uns anzuschließen. Belwicket hat vor langer Zeit seinen eigenen Weg eingeschlagen und der ist nicht für jeden geeignet. Aber wir müssen wachsen. Wenn wir nur Bluthexen, die nachweislich unserem Clan entstammen, aufnehmen, werden wir mit Sicherheit aussterben. Wir müssen andere von unserer Art suchen und die Clans vermischen. Aber Ma und die Älteren überstimmen mich immer und immer wieder. Sie wollen, dass wir rein bleiben. Sie weigern sich, Außenseiter einzulassen.
Vielleicht würden manche in Belwicket lieber
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