Das Buch der Schatten 2
sich immer mehr auf, je länger meine Eltern mir aus dem Weg gingen, um meine Fragen nicht beantworten zu müssen. Ich musste aber auch zugeben, dass ein Teil von mir fast froh war über diesen Aufschub. Ich hatte wirklich Angst davor, wie schmerzlich und hässlich die ganze Szene werden könnte.
Ich loggte mich ein und tippte die HTML-Adresse ein, an die ich mich noch erinnerte. Doch statt Maeves Familienstammbaum tauchte auf dem Bildschirm eine Nachricht auf:
Die Seite, die Sie suchen, kann nicht angezeigt werden. Sie ist unter diesem Link nicht zu erreichen. Die Webseite kann technische Schwierigkeiten haben oder Sie müssen Ihre Browsereinstellungen anpassen.
Ich runzelte die Stirn. Hatte ich die Adresse falsch eingegeben? Ich tippte Maeve Riordan ein und startete eine Suche. Sechsundzwanzig Treffer tauchten auf.
Das letzte Mal waren es siebenundzwanzig gewesen.
Ich ging rasch die Liste durch. Keine HTML. War diese Ahnenforschungsseite verschwunden?
Ich versuchte es mit einer Suche nach Ballynigel und landete auf einer Kartenseite, auf der ich ein Fenster mit einer Landkarte von Irland öffnete. Ballynigel war ein Punkt an der Westküste. Ich konnte ihn nicht näher heranholen.
Ich tippte Belwicket ein und klickte auf den Suchbutton. Kein Treffer.
Frustriert schlug ich mit der Hand auf die Tastatur. Die Seite war weg. Einfach verschwunden. Als hätte es sie nie gegeben.
Ich redete mir gut zu, mich nicht aufzuregen. Vielleicht wurde sie verbessert oder aktualisiert oder so. Wenn ich es in zwei Tagen noch einmal probierte, war sie womöglich wieder da.
Einen Augenblick lang schloss ich die Augen, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Als ich
mich ein wenig beruhigt hatte, gab ich eine Web-Adresse ein, die ich von Ethan bekommen hatte – eine Adresse für eine Seite über Runenmagie.
Die Homepage öffnete sich augenblicklich und geheimnisvolle Symbole glühten vor meinen Augen auf. Ich beugte mich vor, und als ich anfing zu lesen, vergaß ich schnell all meine Sorgen.
Es war fast eine Stunde vergangen, als ich den Computer endlich ausschaltete. Wenn ich die Augen schloss, tanzten immer noch Runen über meine Augenlider. Ich hatte an diesem Abend sehr viel gelernt.
Ich nahm einen Stift und zeichnete meine neue Lieblingsrune auf einen Fetzen Papier, der neben der Tastatur lag: Ken. Sie sah aus wie ein V, das auf der Seite liegt, und sie stand für Feuer, Inspiration und Leidenschaft des Geistes. Sie war so einfach und doch so stark.
Darunter zeichnete ich meine zweite neue Lieblingsrune: Ur – Kraft.
Ich seufzte. Davon konnte ich zurzeit reichlich gebrauchen.
Am Donnerstagnachmittag saß ich im Familienzimmer und machte meine Hausaufgaben in Amerikanischer Geschichte, während im Fernsehen Oprah lief. Überrascht schaute ich auf, als Mom hereinkam.
»Hi, Morgan.« Sie klang vorsichtig. Sie hatte sich ihr Haar gebürstet und zwei Kämme hielten es aus dem Gesicht. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, aber sie trug einen Trainingsanzug, der mit Laub bestickt war. »Wo ist Mary K.?«
»Ich habe sie bei Jaycee abgesetzt«, sagte ich.
»Oh. Gut.« Mom ging ans andere Ende des Raums und nahm den Lehmtopf in die Hand, den ich in der dritten Klasse gemacht hatte, dann stellte sie ihn wieder ins Regal. »Sag mal, wie kommt es, dass Bree die ganze Woche nicht hier war?«
Ich schluckte schwer und rief mir die Szene in der Mensa wieder in Erinnerung, als Bree und Raven verkündet hatten, sie würden ihren eigenen Hexenzirkel gründen. Ich ging nicht davon aus, dass Bree noch viel Zeit mit mir verbringen würde.
Aber ich hatte im Augenblick auch nicht die Kraft, mit Mom darüber zu diskutieren. Also sagte ich nur: »Sie hat wohl viel zu tun.«
»Hm.« Zu meiner Überraschung ließ sie es dabei bewenden. Sie ging noch ein wenig im Zimmer herum, nahm Sachen in die Hand und legte sie wieder weg. Dann sagte sie abrupt: »Mary K. sagt, du hast einen Freund?«
»Ähm … o ja«, sagte ich überrascht. Mir wurde plötzlich klar, dass sie von der ganzen Sache mit Cal ja noch nichts wusste. Natürlich. Wie denn auch? Das mit Cal
und die Entdeckung, dass ich adoptiert worden war, waren fast zur selben Zeit passiert.
»Er heißt Cal Blaire«, erklärte ich ein wenig verlegen. Zum einen hatten wir noch nie zuvor über Jungen gesprochen. Es hatte nie etwas zu besprechen gegeben. Und zum anderen fragte ich mich, ob ich verpflichtet war, ihr alles zu sagen. Sie hatte ja offensichtlich kein Problem damit,
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