Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
der Hand zurückkam. Die Blicke auf die Briefe gerichtet, setzte er sich wieder auf seinen Platz. Nacheinander sah er sich die Absender durch. Beim letzten zuckte er etwas zusammen. Beinahe hastig riß er ihn auf. Nur wenige Worte standen von Hand geschrieben auf dem Papier.
Hallo Cloud,
habe vergeblich versucht, Dich telefonisch zu erreichen. Man sagte mir, Dein Anschluß sei für längere Zeit unterbrochen. Melde Dich bei mir, Cloud. Dringend! Ich brauche Deine Hilfe!
Dein Freund Ellinoy
Cloud nahm das Kuvert und las die Adresse, an die der Brief adressiert war. Es war seine alte Anschrift. Irgendwie mußte es der Post dann gelungen sein, seine neue Anschrift ausfindig zu machen. Gestempelt war der Brief vor genau fünf Tagen. Demnach war der Brief mit nur geringer Verzögerung bei ihm eingegangen. Telefonisch hätte er auch nicht erreicht werden können, wenn er zu Hause gewesen wäre, da das neue Telefon erst seit ein paar Tagen angeschlossen war.
„Sollen wir jetzt Mama holen?“ fragte Larsen noch mal. Cloud richtete seinen Blick auf und sah ihn an.
„Ich muß mal eben telefonieren“, entgegnete er und stand wieder auf.
„Telefonierst du mit Mama, Daddy?“ wollte Larsen gleich wissen. Cloud gab ihm darauf keine Antwort. Eilig begab er sich zum Telefon, das im Flur, zwischen Eingang und Wohnzimmer, seinen Platz hatte. Die Nummer seines Freundes wußte Cloud auswendig. Das Abheben des Hörers und Bedienen der Tastatur war eins. Ungeduldig lauschte er dem Freiton, der sich in gleichen Abständen wiederholte. Auf dreiundzwanzig zählte er, als er den Hörer enttäuscht wieder auflegte. Nachdenklich ging er wieder zu Larsen zurück, der sich zwischenzeitlich ein Blatt Papier und einen Stift aus seiner Spielzeugschublade geholt hatte. Cloud begann, den Tisch abzuräumen. Larsen ließ sich bei seinen malerischen Tätigkeiten nicht stören.
„Hast du Mama angerufen?“ fragte er ihn, ohne von seinem Blatt aufzublicken. Cloud stellte den Teller, den er gerade in der Hand hielt, in die Spülmaschine. Langsam richtete er sich auf. Larsen saß mit dem Rücken zu ihm.
„Du vermißt deine Mama sehr?“ fragte er ihn.
„Gehen wir sie nachher holen?“
Cloud trat hinter Larsen. Zärtlich strich er ihm über seine Haare.
„Natürlich gehen wir deine Mama holen, mein Junge. Ich vermisse sie doch auch.“ Lächelnd blickte er über Larsens Schulter auf das Blatt, auf dem Larsen eifrig herummalte. Bestürzt fuhr Cloud zurück.
„Was malst du denn da?“ fragte er entsetzt. Zitternd nahm er Larsen das Blatt aus der Hand. Dieser blickte seinen Vater verständnislos an.
Eine Gestalt, als Kopf die Form eines kahlen Schädels. Zwei große Löcher anstelle von Augen. Larsen hatte die Löcher mit dem Bleistift ausgemalt, so daß sie vollkommen schwarz waren. Aus dem Mund ragten Zähne, wie die eines reißenden Tieres. Der Körper bedeckt von einem Mantel. Die Finger malte er übergroß, lang, knochig, mit spitzen Fingernägel daran.
Cloud starrte von dem Blatt auf seinen Sohn, von seinem Sohn wieder auf das Blatt.
„Woher – hast du das?“ fragte er ihn leise. Larsen gab keine Antwort. Cloud wankte, stützte sich auf dem Eßtisch ab. Langsam setzte er sich seinem Sohn gegenüber.
„Wo-her hast du das?“ wiederholte er sich. „Du mußt es mir sagen, Larsen. Du mußt!“
Larsens Augen füllten sich mit Tränen. „Heute nacht, Daddy. Heute nacht. Er wollte, er hat mich, er hat –“. Larsen rutschte von seinem Stuhl und klammerte sich an das Bein von seinem Vater.
„Du hast davon geträumt“, hauchte Cloud. Seine Kräfte wollten schwinden. Es fiel ihm schwer, den kleinen Larsen auf seinen Schoß zu setzen. „Erzähl, mein Junge. Sag mir, was du heute nacht geträumt hast.“ Sanft strich er ihm die Tränen von den Wangen. Cloud hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Mehrmals lief es ihm eiskalt über den Rücken. Er brachte Larsens Traum mit dem seinigen in Verbindung. Oder war es doch kein Traum?
„Sag es mir, mein Junge“, forderte Cloud seinen Sohn von neuem auf. „Bestimmt geht es dir danach besser. Du mußt mit deinem Vater darüber reden, Larsen.“
Larsen blickte auf. Die sanfte Stimme seines Vaters schien ihn zu beruhigen. „Es, es wollte mich, es wollte mich aufessen, Daddy. Einfach aufessen.“
Clouds Gesicht wurde fahl. Mit einem Male war es da, dieses Antlitz. Es war wieder da. Genau sah er es vor sich. Direkt, als säße es ihm gegenüber. Es starrte ihn an, mit den dunklen Löchern.
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