Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Starrte ihn nur an. Blutrot, von vielen kleinen Fasern durchzogen, glotzte es ihn einfach an. Als wollte es in sein Inneres blicken. In seine tiefste Verborgenheit, in der sie schlummerte, seit Jahren schlummerte. Die Angst! Die Furcht! Das Grauen in ihm.
„Mein Gott“, stammelte Cloud. „Es ist wieder da.“
Larsen getraute nicht, sich zu bewegen. In solch einer Verfassung hatte er seinen Vater noch nie gesehen. Cloud nahm seinen Sohn und stellte ihn auf den Boden. Es kostete ihn einige Anstrengung, sich zu erheben. Nur schwerlich tastete er sich vor, dem Telefon entgegen. Larsen war vollkommen verwirrt. Regungslos blickte er seinem Vater nach. Dieser nahm den Hörer von der Gabel. Zitternd drückte er auf die Wiederwahltaste. Das Freizeichen erklang. Viele Male hintereinander. Schon wollte Cloud wieder auflegen, da vernahm er ein Klicken in der Leitung.
„Lony“, meldete sich eine Stimme. Kurz leuchteten Clouds Augen auf.
„Hallo, Ellinoy“, sagte er kaum hörbar.
„Dumpkin, bist du es?“ rief es überrascht in den Sprechapparat. „Endlich meldest du dich.“
„Es ist wieder da“, stammelte Cloud. „Dieses Gesicht, es ist wieder da.“
„Wir müssen uns treffen“, erwiderte Eduard. „Wenn es geht heute noch.“
Allmählich kehrte wieder Ruhe in Cloud zurück. Die Stimme seines Freundes verdrängte die Furcht in ihm.
„Ich wohne jetzt in Washington“, sprach Cloud nun etwas gelassener. „Melanie hat gestern ein Baby bekommen.“
„Wo treffen wir uns?“ fragte Eduard darauf.
„Nordhospital, findest du das?“
„In zwei Stunden bin ich bei dir“, sagte Eduard mit Bestimmtheit. Ohne noch weiter zu fragen, legte er den Hörer einfach auf.
„Daddy, gehen wir jetzt Mama holen?“ hörte Cloud plötzlich die Stimme seines Sohnes. Langsam legte er den Hörer zurück und drehte sich um. Mit großen Augen blickte Larsen zu ihm auf.
„Ja, mein Junge“, antwortete Cloud, indem er sich seinem Sohn gegenüberhockte. Etwas Trauriges lag in seinen Augen. Larsen schien es zu bemerken. Er trat seinem Vater entgegen und legte die Arme um dessen Hals.
Eine Stunde später. Hand in Hand schritt Cloud mit seinem Sohn den Gang zu dem Krankenzimmer seiner Frau entlang. Wenige Meter vor der betreffenden Tür riß Larsen sich los. Er konnte es nicht mehr erwarten, seine Mutter wiederzusehen. Larsen war gerade groß genug, um die Türklinke zu erreichen. Schwungvoll drückte er sie auf.
„Mama, Mama“, rief er erfreut und verschwand in dem Zimmer. Cloud eilte hinterher. Larsen war seiner Mutter schon um den Hals gefallen. Lächelnd strahlte sie über Larsens Schulter hinweg Cloud entgegen, der hinter sich die Tür wieder schloß. Neben dem Krankenbett stand eine kleine Wiege. Janina lag darin. Durch Larsens laute Rufe schien sie aufgewacht zu sein. Cloud gab Meni einen zärtlichen Kuß. Danach widmete er sich seinem Töchterlein. Ihre Augen waren geöffnet. Sie lachte ein wenig, als er sie aus dem Bettchen nahm.
„Hast du mit dem Arzt schon geredet?“ fragte Meni leise.
„Nein, noch nicht“, antwortete Cloud. „Aber mach dir keine Sorgen, bestimmt lassen sie dich gehen. Wie fühlst du dich?“ Cloud setzte sich neben Meni auf die Bettkante. Larsen begann seine Schwester eingehendst zu mustern.
„Gut, mein Liebling“, erwiderte sie. „Ich freue mich, wieder bei euch zu sein.“
Cloud blickte seiner Frau länger in die Augen. „Wir bekommen Besuch“, sagte er nach einer Weile.
„Besuch?“ erstaunte sich Meni. Cloud fiel es nicht leicht, seine innere Unruhe zu verbergen. Seine Frau wußte, was es zu bedeuten hatte, wenn einer seiner Freunde zu Besuch kam, oder er sie besuchen ging. Jahre liegt es nun zurück, seit sie etwas von ihnen gehört hatte. Beinah waren sie schon in Vergessenheit geraten. Nachdem sie damals überstürzt das Internat verlassen mußten, hatte Melanie noch einen Brief in Dumpkins Zimmer gelegt. Dieser Brief war es, der sie geraume Zeit später wieder Kontakt zueinander finden ließ. Cloud hatte zwischenzeitlich sein Studium zum Wirtschafts-
ingenieur abgeschlossen und eine Stelle bei einer großen Computerfirma als Manager angetreten. Melanie studierte zu dieser Zeit noch an der High School. Sie wollte Lehrerin werden. Doch nachdem sie ihre Liebe Cloud gegenüber bekannt hatte und sie schwanger geworden war, brach sie das Studium ab und widmete sich nur noch ihrem Familienglück. Eines Abends hatte Cloud ihr seine Geschichte erzählt. Obwohl er sich geschworen
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