Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Redner hielt inne. Binnen weniger Sekunden hatte er den Störenfried ausgemacht. Obwohl eine beträchtliche Entfernung zwischen ihnen bestand, gelang es dem Prediger, den Blick des Mannes auf sich zu ziehen. Nicht die geringste Regung war in dem Gesicht des Rothaarigen zu erkennen. Kalt starrte er den Unruhestifter an, bohrte seinen Blick in dessen Augen. Ungewöhnliche Stille herrschte auf einmal, wo vorhin noch die tiefe Stimme des Predigers ertönte. Gespannt warteten die Zuhörer darauf, was nun geschehen wird.
„Das Böse hat viele Gesichter“, sprach der Prediger in gelassener Ruhe weiter. „Wie sieht es mit deinem Gesicht aus? Kannst du es jedem offenbaren, oder versuchst du immer gleich deinem Gegenüber das Maul zu stopfen?“ Ein kurzes Raunen ging durch die Menge. Einige lachten auf, verstummten aber sofort wieder. Sie wollten dem Prediger dadurch nur ihre Anerkennung zeigen. Der Mann brummte etwas vor sich hin, stampfte wütend auf den Boden und wandte sich abrupt von der Ansammlung ab. Mürrisch verschwand er hinter der Kirchenmauer, ohne sich noch einmal umgedreht zu haben. Augenblicklich nahm der Prediger wieder die vorige Haltung ein. Aufrecht, stolz, seine Blicke kühl und bedächtig.
„Meine lieben Mitmenschen“, ertönte seine Stimme weit über das Gemäuer hinaus. „Geht nach Hause. Laßt geschehen, was längst in die Bahnen geleitet wurde. Ihr habt nicht die Macht, es zu verhindern. Schließt eure Augen, wenn es soweit ist. Er wird euer Antlitz sehen wollen. Er wird kommen, um sich euch zu zeigen. Seht nicht hinein! Niemals dürft ihr sein Gesicht erblicken. Es wäre euer Verderben, euer Schicksal hätte von Sekunde an seinen Lauf. Den Lauf des Bösen, der Finsternis.“
Langsam kehrte der Prediger seinen Zuhörern den Rücken zu, legte seine Hand auf den Griff der Eingangstür und drückte diese auf. Erst als er das Innere der Kirche betrat, begann sich die Versammlung allmählich aufzulösen. Gesenkten Hauptes schritt er zwischen den Bankreihen hindurch auf den Opfertisch zu. Außer ihm befand sich niemand in der Kirche. Vor dem Altar kniete er nieder, faltete die Hände zum Gebet und verharrte geraume Zeit in dieser Stellung. Nicht einmal das knarrende Geräusch der Eingangstür störte ihn bei seiner Andacht. Pastor Dauwn, der Geistliche von diesem Dorf, näherte sich mit langsamen Schritten dem Prediger. Dicht neben ihm blieb er stehen, bekreuzigte sich und kniete sich danach ebenfalls nieder. Nach wenigen Minuten erhob sich der Prediger, erbrachte mit der rechten Hand das Zeichen des Kruzifix, und machte Anstalten, die Kirche wieder zu verlassen. Schnell kam ihm der Pastor nach, indem er sich nur flüchtig bekreuzigte.
„Warten Sie“, forderte er den Prediger auf. Dieser blieb unvermittelt stehen, drehte sich aber nicht um, sondern ließ den Pastor vor sich herantreten.
„Ich möchte mit Ihnen reden“, brachte Pastor Dauwn sein Anliegen vor. Der Prediger sah ihn nur an.
„Ich habe Ihnen da draußen zugehört“, sprach Dauwn weiter. Der Prediger rührte sich nicht.
„Noch niemals in meinem Leben habe ich jemanden so reden gehört, wie Sie“, versuchte er einzuleiten. Keine Reaktion. „Noch niemals habe ich bei jemandem gesehen, wie er die Menschen so zu fesseln versteht wie Sie“, setzte der Pastor hinzu, nachdem sein Gegenüber nichts darauf erwidert hatte. Aber immer noch sagte der Prediger nichts. Unbeweglich hafteten dessen Augen auf dem Gesicht des Pastors.
„Obwohl Sie doch selbst wissen, daß es nicht so sein wird, wie Sie sagten, lasen Ihnen die Menschen förmlich die Worte vom Mund.“
Der Prediger zog seine Augenbrauen etwas enger zusammen. „Wissen Sie denn, wie es sein wird?“ fragte er nur.
Dauwn richtete seinen Blick über den Prediger hinweg zur Decke empor. „Nur Er weiß es“, gab Dauwn als Antwort. „Aber nicht das ist es, worüber ich mit Ihnen reden wollte.“ Er sah den Prediger an, als würde er eine Frage darauf erwarten. Doch dieser sagte nichts.
Pastor Dauwn trat unruhig von einem Bein auf das andere. „Wie machen Sie das?“ brachte er endlich sein Begehren hervor. Der Bann schien gebrochen zu sein. „Wie schaffen Sie es, daß Sie einfach beginnen zu reden, obwohl niemand anwesend ist“, sprudelte es nur noch so aus ihm heraus. „Und mit jedem Wort, das Sie sagen, werden es mehr, die Ihnen zuhören. Und wenn Sie fertig sind, schicken Sie sie einfach nach Hause, und sie gehorchen Ihnen. Dazu noch bei einem Wetter, das jeden
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