Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Menschen zu tun hatte.
„Ich brauche dein Gesicht, Keith Svensen“, sprach die Stimme weiter. „Nur dein Gesicht und deine Augen.“
Svensen war keiner Bewegung mächtig. Widerstandslos ließ er es geschehen. Das Blut schoß nur noch so aus seiner Halsschlagader. Ihm wurde schwarz vor Augen. Tot sackte Svensen mit aufgeschlitzter Kehle auf den Stufen des Turmes zusammen.
Als Wilson die letzte Stufe vor seinen Augen auftauchen sah, blieb er dicht an der Mauer stehen. Die Nacht brach herein. In den nächsten zwanzig Minuten würde nichts mehr zu erkennen sein. Verwundert blickte Wilson zurück. Er war der Annahme, daß Svensen jeden Augenblick auftauchen würde. Aber weder ein Licht, noch ein Geräusch, das sich bemerkbar machte. Totenstille, die unheimlich aus dem Dunkeln des Turmes ihm entgegendrang. Das tiefe Schwarz war wie ein riesiges Maul, das jeden Augenblick zuschnappen würde.
Eine Minute verstrich. Eine weitere verging, ohne daß Svensen sich bemerkbar machte. Beunruhigt stieg Wilson weiter die Stufen hinauf. Schon auf den ersten Blick erkannte er, daß sich dort niemand verstecken konnte. Vorsichtig näherte er sich der Mauerbrüstung. Eisig wehte ihm der Wind ins Gesicht. Die Flamme seiner Kerze begann ebenfalls zu tanzen, wie bei Svensen vor wenigen Minuten. Doch schien der Wind nicht stark genug zu sein, sie zu löschen. Viel konnte Wilson bei dieser Dunkelheit nicht erkennen, daher machte er sich augenblicks wieder auf den Weg nach unten. Stufe um Stufe kam er der Stelle näher, an der Svensen vor weniger als zehn Minuten sein Leben gelassen hatte. Ein übler Geruch drang Wilson in die Nase.
Blut , schoß es ihm durch den Kopf. Noch langsamer bewegte er sich abwärts. Plötzlich zuckte Wilson zusammen. Sein Atem stockte, als er im Schein der Kerze die Mauer betrachtete. Sie war rot. Blutrot.
„Svensen“, entfuhr es ihm. Fiebrig begann er das Gemäuer abzuleuchten. Die Spur schleifte sich Tritt für Tritt die Treppe hinunter. Auf einmal fiel ihm ein kleiner Gegenstand ins Auge. Svensens Feuerzeug. Merkwürdigerweise klebte daran kein Blut. Zitternd steckte er es in seine Hosentasche.
„Mein Gott“, stammelte Wilson. Schwer atmend tastete er sich an der Wand entlang. Die Kraft seiner Beine wollte ihm versagen. Nur mühevoll gelang es ihm, die Stufen vollends hinabzusteigen. Die Tür zum Altarbereich stand noch geöffnet. Von weitem schon sah er, daß das Tuch, mit dem der Altar bedeckt war, sich bewegte. Die Spur führte direkt unter den steinernen Tisch.
„Nein“, kam es hauchend über Wilsons Lippen. „Du elendiges Miststück. Dafür wirst du bezahlen!“ Vollkommen entkräftet wandte er sich dem Holzverschlag zu. Ohne Rücksicht auf Geräusche gab er der Tür einen Tritt mit dem Fuß. Im Freien angelangt warf er die Kerze einfach von sich. Hals über Kopf stürzte Wilson sich dem Eingangstor entgegen. Zwischenzeitlich war es so dunkel geworden, daß er kaum noch die Umrisse des Rangerovers erkannte, der noch am selben Platz stand wie bei seiner Ankunft. Auch war das Tor noch angelehnt. Gerade wollte er das Internat verlassen, als er hinter sich eine Stimme vernahm.
„Wilson“, rief es in verhaltenem Ton durch die Nacht. Abrupt hielt Wilson inne. Eindeutig hatte er Svensens Stimme erkannt.
„Sheriff Wilson“, wurde er nochmals gerufen. Diesmal etwas lauter.
„Vielleicht war es gar nicht Svensens Blut“, sprach Wilson zu sich selbst. „Verdammt, warum bin ich nicht gleich darauf gekommen. Einer von denen, bestimmt war es einer von denen.“ Erleichterung breitete sich in ihm aus.
„Wilson, wo sind Sie?“ wurde er nochmals gerufen. Wenige Meter von ihm entfernt zeichneten sich die Umrisse von Officer Svensen in der Dunkelheit ab. Einen Moment darauf stand Svensen vor ihm.
„Gott sei Dank, da sind Sie ja“, sagte Svensen sichtlich erleichtert. „Dachte schon, wir hätten uns verloren.“
„Ich – ich dachte, Sie –“ Wilson musterte den Officer, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
„Beinah hätte ich einen von ihnen erwischt“, flüsterte Svensen. Wilson blickte ihn nur fragend an.
„Als Sie vorhin die Treppe hinaufgegangen sind, vernahm ich ein leises Geräusch in der Kirche“, redete er weiter. „Ich ging zurück, um nachzusehen, da hatte ich den Eindruck, als bewege sich etwas unter dem Altar. Und tatsächlich, der Chinese kam darunter hervor. Leider hatte er mich gesehen, sonst hätte ich ihn bestimmt erwischt. Er floh genau in diese Richtung, aus der Sie die
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