Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
„Ihm fehlt der rechte Ringfinger.“ Svensen blickte den Sheriff fragend an.
„Der Tote in der Kirche“, flüsterte Wilson weiter „ihm fehlte derselbe Finger.“
Svensen verstand immer noch nicht. Unruhig blickte er von Wilson auf die Kirche, dann wieder auf Wilson. Dieser setzte sich seinen Hut wieder auf den Kopf. „Auch hat der Chinese ungefähr dieselbe Größe wie der Tote in der Kirche“, fuhr er fort.
„Sie meinen –“, erwiderte Svensen gedehnt. Er getraute sich nicht, seinen Gedanken auszusprechen. Zu unrealistisch schien ihm dieses zu sein.
„Ich meine, daß der Chinese und der Tote in der Kirche ein und dasselbe Gesicht besitzen.“
„Sie denken doch bestimmt an so etwas wie Zwillinge“, wollte Svensen den Gedanken immer noch verdrängen. Ein Schauder nach dem anderen überfiel ihn, wenn er an die Toten aus Mountain-City dachte.
„Verdammt noch mal, Svensen“, stieß der Sheriff hervor. Fast zornig blickte er seinem Gegenüber in die Augen. „Begreifen Sie endlich, daß wir es vielleicht mit dem gerissensten Mörder aller Zeiten zu tun haben. Einem Wahnsinnigen, der vor nichts, vor absolut gar nichts, zurückschreckt!“
Svensen machte erschrocken einen Schritt zurück. In solch einem Ton hatte Wilson noch nie mit ihm geredet. Immer waren sie sehr gut miteinander ausgekommen. Manchmal kamen sie sich sogar so nahe, daß es schon als Freundschaft bezeichnet werden konnte.
Wilson legte sanft seine Hand auf die Schulter des Officer. „Tut mir leid, Svensen“, sagte er leise. „Wollte Ihnen nur verdeutlichen, wie gefährlich unsere Gegner sind.“
„Ist schon in Ordnung“, atmete Svensen auf.
Wilson zog seinen Revolver aus dem Halfter. Kurz überprüfte er die sechsschüssige Trommel. „Vermutlich sind sie alle bewaffnet“, zischte er in sich hinein. „Schlage vor, wir fangen in der Kirche an.“
Wilson machte den Anfang. Geduckt schlich er sich an der Mauer entlang. In Höhe des Rangerovers löste er sich von dem Gebäude. Das Fahrzeug benutzte er dabei als Deckung. Svensen folgte seinem Beispiel. Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, nicht beobachtet zu werden, rannten sie, so schnell sie konnten, über das freie Feld auf die Kirche zu. Unterhalb des Glockenturmes verschanzten sie sich dicht neben einem Gebüsch, das in den vergangenen siebzehn Jahren wild an der Mauer emporwucherte.
„Ich habe gesehen, daß die Kirche einen zweiten Eingang besitzt“, flüsterte Wilson kaum hörbar. „Gleich an dieser Seite.“ Mit dem Kopf deutete er in die Richtung des Holzverschlages. „Ich schleiche mich zum Haupteingang. Gehen Sie durch den Hintereingang. Vermutlich besteht im Inneren eine Verbindungstür.“
Svensen zögerte nicht lange. Er warf einen Blick auf den gegenüberliegenden Speisesaal. Nichts Auffälliges konnte er bemerken. Gewandt gleitete er an dem Gemäuer bis hin auf den Holzverschlag zu. Vorsichtig drückte er den verrosteten Türgriff hinunter. Nur schwerlich ließ er sich nach unten bewegen. Noch vorsichtiger versuchte er die Tür zu öffnen. Svensen fluchte innerlich in sich hinein, als ein lautes Geknarre die Stille förmlich zeriß. Flüchtig warf er noch einen Blick hinter sich, bevor er in das Dunkel des Turmes trat. Für Wilson war das Knarren der Tür das Zeichen, daß Officer Svensen den Turm betreten hatte. Sofort machte er sich auf die Vorderseite der Kirche. Keine Minute später betrat auch er die verlassene Kathedrale.
Cloud zuckte zusammen, als das knarrende Geräusch durch das Internat hallte. Eben war er im Begriff, den Speisesaal wieder zu verlassen. Entsetzt beobachtete er, wie Svensen mit gezücktem Revolver in den Kirchturm eindrang.
„Champy“, entfuhr es ihm. „Verdammt!“ Die Eingangstür des Schülerhauses befand sich nur wenige Meter von ihm entfernt. Hastig eilte er auf diese zu. Zur selben Zeit, wie Sheriff Wilson die Kirche vom Haupteingang aus betrat.
„Ellinoy“, rief Cloud gedämpft, als er die Treppe hinaufhetzte. Instinktiv wandte er sich Eduards ehemaligem Zimmer zu. Die Tür stand offen. Schnaufend betrat er den Raum. Eduard befand sich am Fenster. Regungslos blickte er über die Baumwipfel hinweg, die sich leicht hin- und herbewegten.
„Nicht mehr lange, dann wird es dunkel werden“, sagte er, ohne sich nach seinem Freund umzudrehen. Cloud stellte sich neben ihn.
„Champy ist in Gefahr“, sprach er Eduard von der Seite an. „Wir sind verfolgt worden.“
Nur langsam wandte Eduard sich um. „Verfolgt?“
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