Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
mein bist. In Jerajisa.
Cloud drehte sich erschrocken um. Aus dem Nichts sah er plötzlich eine Gestalt auf ihn zukommen. Als würde sie über dem Erdboden schweben. Fassungslos starrte er auf Meni, die ihm die rechte Hand entgegenstreckte. Auf ihrer Stirn sah er dieses Symbol. Es leuchtete in einem seltsamen Licht. Dasselbe Licht, in dem Rouven ihren Augen entschwunden war. Schwester Maria hatte dieses Symbol als Siegel Salomon bezeichnet. Damals hatte sie die Klasse vor diesem Zeichen gewarnt. Wußte sie wirklich, was es zu bedeuten hatte? Wußte sie es wirklich?
„Meni“, flüsterte Cloud. Eduard stand dicht neben ihm. Er mußte sich zwingen, seinen Blick von dem Ereignis abzuwenden und auf Cloud zu richten. Außer seinen Freund konnte er niemanden sehen.
„Meni“, wiederholte sich Cloud. Langsam streckte er seine Hand von sich, als wolle er sie jemanden reichen. „Was ist mit unseren Kindern, Meni? Wo sind sie?“
Eduard wußte nicht, was er davon zu halten hatte. Sehr vorsichtig faßte er seinen Freund am Arm. Cloud gab keine Reaktion von sich.
„Unsere Kinder, Meni“, sprach er weiter. „Geht es ihnen gut?“
„Dumpkin“, flüsterte Eduard leise. Cloud registrierte es nicht. Plötzlich erscholl ein markdurchdringender Schrei. Von allen Seiten hallte er wider. David zuckte zusammen. Mehrmals. Ruckartig drehte er sich Eduard zu.
„Mein Gott, was war das?“ stammelte er. Kaum war das Echo verklungen, erfolgte ein weiterer, noch lauterer Schrei. Um vieles näher als der vorige. Es ähnelte sehr dem Brüllen eines wilden Tieres.
„Meni!“ rief Cloud entsetzt aus. „Geh nicht weg, Meni. Geh nicht –“ Clouds Worte erstickten in dem Gebrüll. Eduard blickte um sich. Die genaue Richtung war nicht auszumachen. Von allen Seiten dröhnte es auf sie zu. Von allen Seiten, und schien unaufhaltsam näherzukommen.
„Wir müssen weg!“ David blickte seinen Bruder auffordernd an. Eduard legte seine Hand um Clouds Schulter. Als sie sich wieder dem Auto zuwandten, fiel ihr Blick in die Richtung des Mondes. Als würde er brennen. In einer blutroten Farbe brennen und dicht über der Erde schweben.
„Wir dürfen uns nicht ablenken lassen“, flüsterte Eduard. Cloud ließ sich widerstandslos in den Wagen setzen. Immer wieder hauchte er den Kosenamen seiner Frau über die Lippen. David setzte sich hinter das Steuer. In halsbrecherischer Geschwindigkeit lenkte er den Wagen die serpentinenartige Straße hinab. Mehrmals nahe daran, mit den Rädern den Grünstreifen zu erwischen. Keine halbe Minute war vergangen, kam etwas aus dem Gebüsch gesprungen. Etwas, das vor mehreren hundert Jahren unter dem Namen Bifezius gelebt hatte. Etwas, das durch den Wahnsinn getrieben zu einer Bestie geworden ist. Das mit aller Gewalt und List die Herrschaft über diese Erde übernehmen will.
„Ihr könnt mir nicht entkommen“, sprach eine Stimme kaum hörbar aus dem unmenschlichen Geschöpf hervor. Starr richtete es den Blick dem Mond entgegen. Die Tausende von Fasern, die den Körper und das Gesicht bildeten, schimmerten in derselben blutroten Farbe des Mondes.
„So wahr ich Bifezius bin, so wahr wird der Tag kommen, an dem das Licht der Finsternis weichen wird.“
*
Tiefschwarze Wolken zogen auf, die den Mond langsam hinter sich verbargen. Beinah zwei Stunden waren vergangen, in denen kein Wort gesprochen wurde. Schweigend hegten sie ihren Gedanken hinterher. Schweigend starrten sie vor sich hin, bis Eduard die Stille unterbrach.
„Rouven war ein Prophet“, sprach er mit vibrierender Stimme. „Er war ein Prophet.“
„Eine halbe Stunde noch, dann sind wir in Washington“, sagte David.
„Washington“, wiederholte Cloud leise.
„Ich habe so etwas noch nie gesehen“, murmelte David. „Der Mond, Eduard, blutrot. Ich kann mir das nicht erklären.“
„Es gibt keine Erklärung dafür“, erwiderte Eduard. „Es – gibt sie einfach nicht.“
Eduard starrte wieder zum Seitenfenster hinaus. Cloud versuchte seine Augen zu schließen, um ein wenig zu schlafen. Er hatte Angst. Wahnsinnige Angst davor, die Wahrheit zu erfahren. Eine weitere Viertelstunde verging. Eduard zeigte seinem Bruder den Weg. Den Weg zu Clouds kleinem Besitztum. Den Weg zu Clouds Familie. Den Weg zur Gewißheit. Gewißheit über den Zustand der Wirklichkeit.
Im Scheinwerferlicht tauchte die kleine Villa auf. Langsam steuerte David darauf zu. Cloud hatte das Gefühl, als würde ihm innerlich ein loderndes Feuer die Eingeweide zerfressen.
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