Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
seinen Wagen. Ohne weiter zu reden, fuhr er direkt dem Ortsausgang entgegen. Wilson ließ aufmerksam seine Blicke von links nach rechts wandern. Wenige Meter vor dem Ortsschild verlangsamte Melby das Tempo.
„Halten wir hier an“, forderte Wilson auf. Melby parkte dicht am Straßenrand.
„Möchte mir den Waldrand etwas näher ansehen“, sagte Wilson darauf. „Schlage vor, Sie bleiben im Wagen und halten die Augen etwas offen.“
Melby wollte dagegen protestieren, da war Wilson jedoch schon ausgestiegen. Mürrisch blickte er dem Sheriff hinterher.
Vom Waldesinneren aus wurde Wilson beobachtet, wie er langsam an den Bäumen entlanghuschte. Ein leises Stöhnen war es, das Wilsons Aufmerksamkeit um noch eine Nuance ansteigen ließ. Den Revolver im Anschlag schlich er sich Stück für Stück dem vermeintlichen Laut entgegen. Das Stöhnen wurde lauter. Wilson drang noch dichter in den Wald ein. Nur noch ein Buschwerk trennte ihn von dem Gestöhne. Vorsichtig, jeden Schritt genau berechnend, trat er hinter dem Gebüsch hervor. Ein grausamer Anblick, der sich ihm bot.
Entsetzt starrte Wilson auf die beiden Gefesselten. Den einen sah er nur von der Seite. Der andere hatte seinen Kopf direkt auf ihn gerichtet. Ab der Kehle war ihm die Gesichtshaut samt der Kopfhaare abgezogen.
„Mein Gott“, brachte Wilson gerade noch über die Lippen. Sein erster Gedanke galt Melby. Im selben Augenblick, wie er den Rückweg antreten wollte, um Melby zu holen, stöhnte einer der beiden überlaut auf. Wilson besann sich eines anderen. Mit wenigen Schritten befand er sich direkt vor ihnen. Dem anderen war dasselbe Schicksal erteilt. Diesem waren jedoch noch die Augen herausgerissen worden.
„Ihr armen gottverdammten Schweine“, flüsterte Wilson. Mittels ihrer Kleidung erkannte er, daß sie den Neighters angehörten.
„Sterben“, vernahm Wilson plötzlich die Stimme desjenigen, den er als erstes gesichtet hatte. Dem Anschein nach war auch dieser noch am Leben.
„Ich will sterben.“ Beinah unmerklich bewegte sich dessen Kopf ein wenig zurück.
Wilson atmete mehrmals tief durch. Mit erstaunlicher Ruhe setzte er ihm den Revolverlauf dicht an die Schläfe. „Du darfst sterben, mein Junge“, hauchte er ihm zu. Gleichzeitig drückte er ab. Das Haupt wurde auf die Seite gerissen, der Schuß hallte von allen Richtungen wider. Durch den Knall entgingen Wilson aber die schnellen Schritte, die sich unmittelbar aus seiner Nähe entfernten.
Nicht nur Melby zuckte durch den Schuß zusammen. Nachdem Eduard den Wagen in dem nahegelegenen Waldweg abgestellt hatte, machte er sich daran, die Straße noch ein Stück entlangzulaufen. Eine knappe halbe Stunde war vergangen, seit er Unsold das letzte Mal gesehen hatte. Das war, als dieser ihm den Autoschlüssel zuwarf, worauf er sich sofort daran machte, das Fahrzeug beiseite zu schaffen. Erschrocken blieb Eduard stehen. Langsam erstarb das Echo. Die Stille kehrte zurück, als wolle sie jegliche Geräusche in sich ersticken lassen. Unheimlich drückte sie von allen Seiten. Verbissen warf Eduard einen Blick auf seine Armbanduhr.
„Nicht mehr lange, dann wird es dunkel“, murmelte er in sich hinein. Längst hatte ihm die Kälte schon die Fingerspitzen bis zur Erstarrtheit erfrieren lassen. Am liebsten wäre er mit dem Wagen die Straße entlanggefahren, um an einer geschickten Stelle auf seinen Bruder zu warten. Jedoch war ihm das zu gefährlich. Also suchte er sich einen geschützten Platz, von dem aus er einiges der Straße überblicken konnte. Immer wieder mußte Eduard an den Sheriff denken. Ihm kam es wie ein Wunder vor, daß Wilson diese Nacht überlebt hatte. Hätte er sich nicht nochmals davon überzeugt, daß es sich bei der verkohlten Leiche tatsächlich um dieses Ekel handelte, Eduard wäre gewillt zu denken, Wilson sei in Wirklichkeit nicht mehr am Leben. Gedanken, die er zu verdrängen versuchte. Gedanken, die er auch endlich in der Vergangenheit wissen wollte.
Stunde um Stunde verging. Schlagartig brach die Nacht über ihn herein. Eduard mußte sich zwingen, nicht vor Erschöpfung einzuschlafen. Das wäre mit wahrscheinlicher Sicherheit sein Tod. Tod durch Erfrieren! Durch andauerndes Aufstehen, ein paar Meter gehen, dann wieder hinsetzen, konnte er es verhindern, vom Schlaf übermannt zu werden. Plötzlich war ihm, als vernehme er ein sich näherndes Motorengeräusch. Für Augenblicke entschwand es seinem Gehör, um anschließend mit zunehmender Lautstärke wieder
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