Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
es hatte keine Augen.“ Showy rollten Tränen über die Wangen. Keiner von seinen Freunden machte den Versuch, ihn zu beruhigen. Wie entgeistert starrten sie ihn an. Bisher hatte Showy nichts davon erwähnt. „Es wollte mich fortschleifen, aber es – es hatte keine Arme. Nicht solche, wie wir haben.“ Mit dem Ärmel wischte er sich die Augen trocken. „Ich kann es einfach nicht vergessen“, plärrte er. „Beinah hätte es mich fortgeschleift. Nur wegen dem scheiß Sallivan. Diese Drecksau! Diese elendige Drecksau! Fast hätte er mir ein Ohr rausgerissen. Dann – dann schlug er mir auf den Hinterkopf.“ Showy blickte von Dumpkin auf Ellinoy, dann auf Champy. „Als ich auf dem Boden lag“, weinte er weiter, „hat er mich getreten. Er verlangte von mir, daß ich alles erzähle. Aber, aber unser Schwur, ich, ich dachte nur an unseren Schwur. Dann wollte ich fliehen. Einfach davonrennen. Dann – dann hat er mich gepackt und – und mich bewußtlos geschlagen.“ Champy stockte der Atem. Das hatte er Sallivan nicht zugetraut.
„Und dann dieses Gesicht“, fuhr Showy fort. „Ich, ich muß ständig an dieses Gesicht denken. Es geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich, ich denke immer daran, was Schwester Maria vorgelesen hatte. Das, das mit dem Anblick des Todes.“ Showy war dem Zusammenbruch nahe. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Champy mußte unwillkürlich auf seine verbundene Hand blicken. Ellinoy verschnürte es die Kehle. Sein Atem drohte ihm zu versagen. Dasselbe Gefühl, wie er es vor einigen Stunden gehabt hatte, überkam ihn. Zitternd stützte er sich an dem Baumstumpf ab. Dabei berührte sein Zeigefinger das Buch. Nur leicht, dennoch verspürte er deutlich das Gribbeln in seinem Finger. Erschrocken zuckte Ellinoy zurück. Irgendwie blieb er an dem Handtuch hängen. Ruckartig wurde das Buch von dem Baumstumpf geschleudert, fiel auf den Rücken und blieb geöffnet liegen. Entsetzt starrten sie einander an, dann auf das Buch. Langsam kniete sich Ellinoy nieder. Zaghaft näherten sich seine Finger dem Buch. Er war auf alles gefaßt. Nichts geschah, als er es berührte. Wie ein Tablett, auf dem viele Gläser stehen, faßte er das Buch vorsichtig an und legte es wieder auf den Baumstumpf. Sein Herz pochte vor Aufregung. Innerlich schimpfte er über seine Ungeschicktheit.
Showy hatte vor Schreck aufgehört zu weinen. Plötzlich war alles wie vergessen. Nur noch dem Buch galt seine Aufmerksamkeit. Nur noch das Buch, das sie alle in den Bann zog.
Die Minuten verstrichen wie im Flug. Keiner von ihnen getraute sich ein Wort zu sagen. Sprachlos starrten sie auf die aufgeschlagene Seite. Da war es wieder, das Siegel Salomons, vor dem sie Schwester Maria gewarnt hatte. Über das gesamte linke Blatt war es dick mit Tinte aufgezeichnet. Nur befand sich der sechszackige Stern innerhalb eines Kreises, der die Spitzen miteinander verband.
Dumpkin war der erste, der das Schweigen unterbrach. Leise pfiff er durch die Zähne.
„Das Siegel Salomons“, flüsterte er. „Die höchste Macht der Magie.“
Auf der gegenüberliegenden Seite standen mehrere Worte geschrieben. Groß und deutlich. Jedoch in einer anderen Sprache. Vermutlich dieselbe, wie auf dem Deckel des Buches.
„Es – es ist eine fremde Sprache“, sagte Showy enttäuscht. „Wir werden mit dem Buch nichts anfangen können.“
Skeptisch griff Ellinoy nach dem Blatt und blätterte es um. Auch dieses war in dieser fremden Sprache beschrieben. Schöne, kunstvolle Buchstaben. Die Sätze in der Form eines Verses zusammengestellt. Jedoch für sie unleserlich.
Die Enttäuschung war groß. Ellinoy blätterte weiter und weiter. Seine Hoffnung wurde nicht belohnt. Jedes einzelne Blatt wies dieselbe Sprache auf. Langsam schloß er das Buch wieder zu.
„Mir gleich!“ zischte Dumpkin. „Ich glaube an die Macht des Buches. Auch wenn ich es nicht lesen kann.“ Vorsichtig legte er seine Hand auf den Deckel des dicken Bandes. Mit den Blicken forderte er seine Freunde auf, dasselbe zu tun. Darauf senkte er seine Augenlider. Ellinoy kam als erster der Aufforderung nach. Showy legte zuletzt seine Hand auf das Buch.
„Sprecht mir nach“, sagte Dumpkin in feierlichem Ton. Seine Lider öffneten sich. Ohne mit der Wimper zu zucken, blickte er durch die Runde. Jedem direkt in die Augen.
„Ich glaube an die Macht dieses Buches“, begann er laut zu reden. „Das Buch, das genannt wird das Buch der Schatten.“ In gleicher Lautstärke sprachen
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