Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
er ist dein Freund, mein Freund.“
Der Pater las die Worte wieder und wieder, ohne sich einen genauen Reim daraus machen zu können. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr verwirrte es ihn. Entschlossen klappte er das Buch zu. Auch wenn es ihn einige Überwindungskraft kostete, es gab noch genügend Zeit, es zu lesen. Nicht im geringsten dachte Richmon daran, es in den geheimen Gang zu werfen. Nicht im geringsten.
Sorgfältig brachte er den Baumstumpf in seine vorherige Stellung zurück. Das Buch bettete er in das Innere seines Gewandes, so daß es von außen nicht gesehen werden konnte. Nachdem er das Lager verlassen hatte, vergrub er die Schnur wieder unter der Erde. So schnell es ihm möglich war, machte er sich auf den Weg in das Internat zurück. Nicht ein einziges Mal blickte er zurück, obwohl er zu spüren vermeinte, daß ihn etwas verfolgte. Im selben Moment, wie er das Freie betrat, huschte jemand durch das dichtverwachsene Eisentor gegenüber. Richmon konnte nur noch einen Fuß darin verschwinden sehen. Ohne zu zögern eilte er darauf zu. Es war nur angelehnt. Vorsichtig drückte er es ein wenig auf. Es knarrte. Schnelle Schritte entfernten sich geräuschvoll auf dem Kies. Deutlich vernahm er, wie ein Bein hinterhergeschleift wurde. Die Person wandte sich um, als sie das Knarren vernahm. Richmon erschrak. Waren es seine Augen, die ihm eine Täuschung vorspiegelten, oder begannen seine Sinne ein trügerisches Spiel mit ihm zu treiben? Als sie Richmon erblickte, verschwand sie rechter Hand hinter einem Baum.
„Ich muß mich irren“, flüsterte er. „Ich muß mich irren.“ Eindeutig hatte er das Gesicht von Sallivan erkannt. Eindeutig, ohne Zweifel. Ihn schauderte, als er an die vergangene Nacht zurückdachte. Langsam zog er das Tor wieder zu.
Der Glockenturm schlug die zehnte Stunde des Tages an. Nachdenklich begab er sich auf die Pforte zu. Geradewegs ging er die Richtung zur Kirche, da wurde die Tür des Lehrerhauses geöffnet. Schwester Maria betrat den Hof. Tief lagen ihre Augen versunken, von dunklen Rändern umgeben. Ein sichtliches Aufleuchten konnte darin bemerkt werden, als sie Pater Richmon erblickte. Von dem Geräusch der Tür aufmerksam gemacht, drehte der Pater sich um. Schwester Maria kam auf ihn zugelaufen.
„Gott sei Dank“, rief sie ihm schon von weitem entgegen. „Da sind Sie ja.“
„Wo ist Rouven?“ fragte Richmon, als sie vor ihm stand.
„Rouven – ist nicht bei Ihnen?“ Beinah entsetzt darüber blickte sie ihn an. Richmon zuckte etwas zusammen.
„Mr. Goodman, haben Sie ihn gesehen?“ fragte er darauf. Schwester Maria schüttelte nur mit dem Kopf.
„Wo sind die Kinder?“ fragte er weiter. Dabei ließ er seinen Blick über das Internatsgelände gleiten. Weit und breit war keiner der Schüler zu sehen. Überhaupt war es auffällig still. Man hätte nicht denken mögen, daß sich annähernd sechzig Menschen innerhalb der Gemäuer befanden.
„Mr. Goodman hat beim Frühstück ausrichten lassen, daß sich niemand draußen aufhalten darf. Nur in den Speisesaal und wieder zurück.“
„Jeremies Beerdigung ist heute mittag“ erwiderte Richmon. „Für vierzehn Uhr ist sie angesetzt.“ Beängstigt über den Verbleib Rouvens blickte er wieder um sich. Schwester Maria spielte nervös mit ihren Fingern.
„Mr. Sallivan“, brachte sie nur mühevoll hervor. „Wo – wo ist er?“
Richmon atmete hörbar tief durch. Langsam bewegte sich sein Kopf abweisend hin und her.
„Kommen Sie“, sagte er auf einmal. „Folgen Sie mir.“
Wortlos schritt der Pater voran auf die Kirche zu. Er hoffte, Rouven darin aufzufinden. Schwester Maria hielt sich dicht hinter ihm.
„Heute nacht“, flüsterte sie, nachdem der Eichenflügel ins Schloß gefallen war und der Schall leiser und leiser wurde. Ihre Stimme vibrierte ein wenig. „Ich – ich sah mir das Bild an, für das Rouven sich so sehr interessiert.“
Richmon blieb stehen. Seine Blicke hatten das Gemälde erfaßt. Schwester Maria brauchte nicht weiterzureden. Nicht nur das Buch auf dem Bild war verschwunden, sondern auch der Engel begann sich in Nichts aufzulösen. In Nichts, als wäre er nie dagewesen.
Auf einmal bewegte sich die Tür zum Glockenturm. Langsam, Stück für Stück. Rouven betrat den Bereich des Altares. Seine Augen fixierten den Pater.
„Rouven“, rief Schwester Maria aus. Sie eilte zu ihm, kniete sich vor Rouven nieder und nahm seine Hand. Rouven blickte über ihre Schulter hinweg auf den
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