Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Pater.
„Du hast es, nicht wahr?“ fragte er ihn. Richmon trat einen Schritt vor. Er zwang sich zu einem Lächeln. Eine Antwort gab er ihm nicht.
„Von was redest du?“ wollte Schwester Maria wissen. Verständnislos blickte sie von Rouven auf Richmon.
„Du hast es zurückgeholt“, sprach Rouven weiter. Dabei richtete er seinen Blick in die Richtung des Gemäldes. „Gib es mir“, forderte er Pater Richmon auf, ohne ihn dabei anzusehen.
„Von was redet Rouven?“ fragte Schwester Maria nun den Pater. „Was haben Sie, das er haben will?“
„Ich hab es nicht“, erwiderte Richmon.
Rouven schüttelte ungläubig seinen Kopf. Schwester Maria erhob sich aus der knienden Stellung. Erst jetzt fiel ihr Blick auf den Altar. Erst jetzt registrierte sie, daß Sämtliches darauf fehlte. Das quadratische Loch konnte sie von ihrem Standpunkt aus jedoch nicht sehen. Erschrocken über das Fehlen der Gegenstände sah sie auf Richmon.
„Er hat es sich geholt“, flüsterte Rouven.
Abrupt drehte Schwester Maria sich um. „Wer?“ hauchte sie vollkommen verwirrt. Richmon horchte auf.
„Ich hab es gesehen“, flüsterte Rouven weiter.
„Von was sprichst du, Rouven?“ Fragend musterte sie ihn mit aufgerissenen Augen.
„Du bist hier gewesen?“ Richmon blickte Rouven erstaunt an. „Heute nacht, du warst hier?“
„Ich hab es gesehen“, antwortete Rouven leise. „Er will das Buch. Du darfst es ihm nicht geben.“
„Was für ein Buch?“ hakte Schwester Maria sofort ein. Erwartungsvoll musterte sie zuerst Rouven, dann den Pater. Auf einmal machte sich ein Geräusch am Eingangsbereich bemerkbar. Der schwere Eichenflügel wurde aufgedrückt. Mr. Goodman trat aus dem dunklen Vorraum in die Helle des Saales. Langsam, auffällig langsam näherte er sich dem Altar. In einer Hand hielt er einen Stock, der ihn beim Gehen unterstützte. Geistesgegenwärtig stellte Richmon sich so, daß die Öffnung unter dem Steintisch von Goodman nicht gesehen werden konnte.
„Da sind Sie ja“, sagte Goodman, als er vor ihnen stand. Er sah von Richmon auf Schwester Maria. Rouven würdigte er keines Blickes. „Haben Sie es ihm schon gesagt?“ stellte er ihr eine unerwartete Frage.
„Was meinen Sie?“ fragte sie zurück. Ihr war nicht bekannt, daß Mr. Goodman ihr eine Nachricht mitgeteilt hatte.
„Rouvens Vater“, erwiderte er.
„Was ist mit meinem Vater?“ erschrak Rouven. Beunruhigt sah er auf den Internatsleiter. Dieser wandte sich Rouven zu.
„Dein Vater ist tot“, murmelte er nur und blickte sofort wieder weg. Rouven machte einen Schritt zurück. Entgeistert starrte er auf Mr. Goodman. Pater Richmon versetzte es einen Hieb in die Magengegend. Gleichzeitig kam Ärger in ihm auf über die brutale Art, wie Goodman dem Jungen absichtlich wehtun wollte. Schwester Maria war für Augenblicke nicht fähig, irgendeine Reaktion zu zeigen.
„Tot“ wiederholte Richmon. Anstatt eine Antwort zu geben griff Goodman in die Tasche. Er holte einen Zettel hervor. Das Telegramm, das Sallivan auch schon gelesen hatte. Richmon las die kurze Nachricht über Charles Blandows Tod. Zitternd gab er ihm den Zettel zurück. Hätte Richmon keinen Vollbart getragen, sein hochrotes Gesicht wäre deutlich zu sehen gewesen.
„Aber hier steht –.“
„Irgendwann muß er es ja erfahren“, fuhr ihm Goodman dazwischen. Nicht das geringste Mitgefühl war in seinen Augen zu lesen. Energisch schob er das Telegramm in seine Jackentasche zurück.
„Mein – Vater – tot?“ stotterte Rouven. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Hilfesuchend schaute er um sich. Auf Schwester Maria blieb sein Blick haften. „Mein – Vater“, hauchte Rouven. „Mein – lieber – Va – ter.“
Schwester Maria kniete sich langsam wieder zu Rouven nieder. Sanft nahm sie seinen Kopf an ihre Brust.
„Ist das alles, was Sie uns mitzuteilen haben?“ fragte Richmon verbissen. „Haben Sie nun erreicht, was Sie erreichen wollten?“ Am liebsten hätte er den Internatsleiter aus der Kirche gejagt. Ihn einfach fortgeschickt. Er mußte sich beherrschen, seine Aggression auf seinen barschen Tonfall zu beschränken.
Goodman betrachtete den Pater mit kalten Blicken.
„Sie wissen nichts!“ zischte er. „Sie wissen überhaupt nichts. Nehmen Sie sich vor ihm in acht, Pater Richmon. Auch Ihr Leben hängt nur an einem dünnen Faden. Auch Ihr Leben, Pater. Passen Sie auf, daß er Ihren Faden nicht zerreißt. Passen Sie auf! - Er ist das Unheimliche, das sich über
Weitere Kostenlose Bücher