Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
die Gemäuer des Klosters gelegt hat. Zu spät habe ich es erkannt. Zu spät.“
Bevor Richmon etwas sagen konnte, hatte sich Mr. Goodman auf dem Absatz gewendet und schritt langsam, wie er gekommen war, dem Ausgang zu. Der Pater verkniff es sich, ihm einige Worte hinterherzurufen. Am Ende des Saales wandte Goodman sich nochmals um.
„Heute mittag, Pater Richmon. Jeremies Grab ist ausgehoben. Wir sehen uns auf dem Friedhof wieder. Und vergessen Sie nicht, nur wir beide allein. Nur wir!“ Sekunden später hallte ein dumpfer Schlag durch die Kirche. Mr. Goodman hatte die Kathedrale verlassen. Das Schluchzen von Rouven waren die einzigen Laute, die momentan noch zu hören waren.
Richmon hätte sich gerne ebenfalls zu Rouven niedergekniet, doch würde ihn das Buch daran hindern. Auf einmal blickte Schwester Maria zu ihm empor.
„Sagen Sie es mir“, forderte sie Richmon auf. „Sagen Sie mir, was hier geschieht.“
Richmon sah auf Rouven, der sich soeben die Tränen aus den Augen wischte. Er wußte nicht, ob er der Schwester antworten solle.
„Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren“, drängte Schwester Maria. „Sagen Sie es mir!“ Sie ließ Rouven los und richtete sich auf. Fordernd starrte sie auf Richmon. Rouven hatte sie den Rücken zugewendet. Abwehrend schüttelte Rouven seinen Kopf.
„Ich –kann nicht“, hauchte Richmon. Damit gab sich Schwester Maria nicht zufrieden. Beinah zornig funkelten ihre Augen. Etwas, das der Pater noch nie bei ihr gesehen hatte.
„Mr. Sallivan ist tot“, zischte sie. „Auf bestialische Weise ermordet! Wollen Sie denn gar nichts unternehmen? Ich dachte, wir verstehen uns recht gut miteinander. Ich habe den Eindruck, daß ich mich sehr in Ihnen getäuscht habe.“
Richmon wandte sich um. Verzweifelt stützte er sich mit beiden Händen am Altar ab.
„Sie werden nicht verstehen“, versuchte er Schwester Maria zu erklären.
„Und Mr. Goodman?“ bohrte Schwester Maria weiter. „Was weiß Mr. Goodman?“
„Mr. Goodman“, sprach Richmon leise vor sich hin. Mehr sagte er nicht. Schwester Maria ließ den Pater nicht aus den Augen. Sie beobachtete ihn nur. Ohne noch etwas zu sagen, stand sie neben ihm. Minuten verstrichen. Zwischenzeitlich hatte die Kirchturmuhr elf Uhr geschlagen. Plötzlich drehte der Pater sich um.
„Wo ist Rouven?“ fragte er erschrocken. Rouven war verschwunden. Sie waren so sehr mit sich beschäftigt, daß sie Rouvens Verschwinden nicht bemerkt hatten. Betroffen blickte Schwester Maria auf den Pater. Sie gab sich die Schuld, daß Rouven gegangen war. Innerlich machte sie sich die allergrößten Vorwürfe.
„Ich geh ihn suchen“, sagte sie nahezu kleinlaut. Richmon nickte nur. Zu gerne hätte er sie in die Geschehnisse eingeweiht, aber es war noch nicht an der Zeit, dies zu tun. Auch wollte er sich erst mit Rouven unterhalten. Die Nachricht über den Tod seines Vaters hatte ihn sehr getroffen. Richmon spürte es förmlich, daß sich einiges dadurch ändern wird. Apathisch blickte er Schwester Maria hinterher, die im Dunkeln des Glockenturmes verschwand. Zuvor hatte sie sich noch das Gemälde betrachtet, bevor sie die Kirche durch den Hintereingang verließ. Nichts von dem Engel war mehr zu sehen. Leere, das unendliche Universum, in das der Knabe blickte. Richmon hoffte, daß das Buch Aufschluß darüber geben wird. Vorsichtig holte er es unter seiner Kutte hervor. Der Stoff war noch ein bißchen angenäßt. Hatte dies Rouven gesehen? fragte sich Richmon. Warum war er sich so sicher?
„Zu mir“, drang plötzlich eine flüsternde Stimme an sein Ohr. Wie vom Blitz getroffen zuckte Richmon zusammen.
„Wirf es herunter, Pater Niclas Richmon“, flüsterte es weiter. Richmons Hände begannen zu zittern. Er stand nicht weit vom Altar entfernt. Die Stimme drang aus der Öffnung.
„Du sollst es herunterwerfen!“ zischte es. „Sofort!“
„Nein“, hauchte Richmon. Noch fester klammerten sich seine Finger um das Buch. „Niemals!“ Er machte mehrere Schritte zurück. Eine Hand griff nach der Kante der Öffnung. Lange knochige Finger. Die zentimeterlangen Nägel wetzten auf dem Steinboden entlang. Langsam kam der Arm zum Vorschein. Dann der Ellenbogen, der sich auf dem Boden abstützte. Richmon bekam es mit der Angst zu tun. Ein runder rötlicher Schädel blitzte ihm entgegen, der sich mehr und mehr aus dem Loch arbeitete. Der Schädel war überzogen mit vielen kleinen Fasern.
Richmon starrte auf das Ding, das sich langsam, sehr
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