Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
langsam nach oben bewegte. Er starrte, keiner Regung mächtig, starrte er auf das Ding. Der zweite Arm stützte sich auf dem Steinboden ab. Plötzlich war es da, das Gesicht. Es wandte sich Richmon zu.
„Sieh ihn nicht an!“ schrie plötzlich vom Eingang des Glockenturmes ihm jemand zu. „Sieh weg! Sieh weg!“
Richmon wandte seinen Kopf in die Richtung des Turmes. Rouven stand im Türrahmen. Mit großen Augen schaute er auf den Pater. Im selben Augenblick, wie Richmon sich von dem Geschöpf abwandte, verschwand es wieder in der Öffnung.
„Ich komme zurück, Pater Niclas Richmon. Du kannst mir nicht entfliehen. Ich komme zurück!“
„Mein Gott, Rouven“, atmete Richmon auf, als er nur noch das leere Loch unter dem Altar erblickte.
„Wenn du ihn ansiehst, dann hat er dich. Dann hat er dich für immer.“
„Wo bist du gewesen, Rouven?“ Richmon war noch vollkommen durcheinander. Rouven kam auf ihn zugeschritten.
„Du hast es doch“, sagte Rouven. „Du hast mich angelogen. Warum hast du mich angelogen?“ Mit vorwurfsvollen Blicken sah er dem Pater in die Augen.
„Schwester Maria“, rechtfertigte sich Richmon. „Sie darf doch nichts davon erfahren.“
„Du wolltest es für dich behalten.“ Rouven blickte ihn dabei eindringlich an.
„Nein, nein, Rouven“, wehrte Richmon die Anschuldigung ab. Mißtrauisch warf er einen Blick unter den Altar. „Woher weißt du davon?“ fragte er ihn direkt.
Für einen Augenblick senkte Rouven seinen Kopf. „Er war noch einmal bei mir“, sagte er, indem er den Pater wieder anschaute. Richmon sah ihn unverständlich an.
„Jeremie“, hauchte Rouven. „Jeremie hat mich gewarnt. Jeremie ist immer noch mein Freund.“
„Pontakus?“ nannte Richmon nur den Namen.
Rouven nickte. „Er will es wieder haben“, flüsterte Rouven. „Aber es ist nur für mich bestimmt. Du weißt es. Du hast es mir die ganze Zeit über gesagt. Gib es mir.“ Fordernd streckte er dem Pater seine Hand entgegen. Dieser wich zurück. Eine Bewegung, die er nicht hatte machen wollen. Ihm war auf einmal, als wolle man ihm etwas nehmen, das allein sein eigen ist. Nur ihm allein, sonst niemandem.
„Weißt du was das heißt, Rouven?“ versuchte Richmon seine ungewollte Bewegung zu vertuschen. Mit dem Finger zeigte er auf die Schrift, die unter dem Zeichen, dem Ankh, in das Leder eingraviert war.
„Ich kann es lesen“, erwiderte Rouven, der Richmon durchschaute. „Du hast gesagt, du bist mein Freund. Du bist es doch, nicht wahr? Du bist es doch? Sag, daß du es bist.“
Richmon wußte nichts darauf zu erwidern. Er wollte das Buch nicht aus seinen Händen geben, wenn er auch immer gesagt hatte, Rouven sei der einzige, dem es gewährt sei, die Niederschrift zu verstehen. Das Buch, es begann ihn zu ergreifen, wie es Dumpkin und Ellinoy ergriffen hatte. Richmon wollte wissen, was darin geschrieben stand. Er wollte es wissen, koste es, was es wolle. Seine Stirn legte sich in Falten. Ihm war es auf einmal egal, wie es um Rouven stand. Kein Mitleid! Kein Erbarmen!
Rouven starrte ihn an. Er erkannte, daß Richmon sich von ihm abgewandt hat. Traurig senkte er seinen Kopf, drehte sich um und schritt auf den Ausgang zu. Rouven fühlte sich am Boden zerstört. Die Nachricht über den plötzlichen Tod seines Vaters hatte ihn schwer mitgenommen. Wen hatte er nun noch? Allein auf sich gestellt. Allein gegen das – Böse?
Dumpf hallte der Schlag der massiven Eichentür durch die Kirche. Richmon stierte auf das Buch. Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Das habe ich nicht gewollt“, hauchte er. „Rouven, das habe ich nicht gewollt.“ Seine Hände begannen zu zittern. Auf einmal wurde ihm schwindlig. Richmon mußte sich setzen. Kein Auge ließ er von dem Buch. Fest umschlossen hielt er es an sich gepreßt.
*
Dreizehn Uhr fünfundvierzig. Sämtliche Schüler hatten sich in der Kirche versammelt. Wie immer, die Lehrer in der vordersten Reihe, die Unzertrennbaren in der letzten Reihe. Schwester Maria hatte den Platz neben Rouven. Doch dieser war nicht anwesend. Als einziger Schüler hatte er die Kirche nicht betreten. Nirgends war Rouven aufzufinden gewesen. Schwester Maria wandte sich des öfteren um. In der Hoffnung, Rouven doch noch zwischen den Schülern zu entdecken. Aber nicht nur die Schwester vermißte Rouven. Auch Champy war aufgefallen, daß Rouven fehlte.
„Ich kann ihn nirgends entdecken“, flüsterte er Ellinoy zu, der neben ihm saß.
„Wen meinst du?“ blickte
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