Das Buch der Sünden
‹Buch› nannten. Doch in dem Moment, als der Priestermit dem Messer zustoßen wollte, schoss eine Gestalt aus der Dunkelheit hervor und rammte Odo von hinten. Helgi erkannte den alten Mann wieder, dem er zur Klause gefolgt war. Odo wurde von dem Angriff so überrumpelt, dass er das Gleichgewicht verlor. Buch und Messer entglitten seinen Händen.
Der Alte huschte an Helgi vorbei, stieß sich von der Landebrücke ab und landete im Fischerboot. Helgi sprang hinterher. Das Mädchen hatte inzwischen die Ruder bereitgelegt. Er warf sich auf die Bank und legte sich in die Riemen.
Er hatte noch keine zwei Schläge getan, als der Kahn erbebte. Auch Odo war hinterhergesprungen, hatte das Boot jedoch verfehlt und klammerte sich nun von außen daran fest. Helgi schlug mit einem Ruder nach ihm. Doch der Hieb ging ins Leere. Erst mit dem zweiten Versuch gelang es ihm, die Hände des Priesters zu treffen, mit denen dieser sich an der Bordwand festkrallte. Schreiend versank er in den schäumenden Fluten.
Helgis Boot nahm Fahrt auf.
Plötzlich schrie Rúna. Im gleißenden Licht eines aufzuckenden Blitzes sahen sie noch einmal Odos Kopf über der Oberfläche auftauchen.
Er schrie: «… die Feiglinge und die Ungläubigen und mit Gräuel Befleckten und Mörder und Unzüchtigen und Zauberer und Götzendiener und alle Lügner – ihr Teil wird in dem See sein, der von Feuer und Schwefel brennt …»
Helgi stieß die Ruder kräftig ins Wasser und legte sich mit seinem ganzen Gewicht in die Riemen. Kurz darauf wurde Odos Stimme vom tosenden Sturmwind übertönt – und von dem Geräusch unzähliger Regentropfen, die auf das Noor niederprasselten. Der Himmel hatte sich geöffnet.Die Götter schickten den erlösenden Regen. Wie eine Flutwelle brach das Gewitter über Haithabu herein. Das Himmelswasser löschte die Flammen, überschwemmte das geschundene Land.
Und für einen kurzen Moment befreite der sintflutartige Wolkenbruch die Welt von dem Bösen.
TEIL IV
Rujana
Sommer bis Herbst 863
Und der vierte Engel goss seine Schale aus in die Sonne,
und ihr ward gegeben,
die Menschen mit Feuer zu versengen.
Offenbarung des Johannes 16, 8
1.
Im Morgengrauen schlich ein alter Dachs durch den regennassen Wald. Sein Fell war struppig und sein Blick über die Jahre trübe geworden. Schwerfällig tapste das Tier auf Nahrungssuche zum Strand hinunter. Es hielt kurz inne, als es unterhalb der Steilküste auf ein Boot stieß, aus dem ein Mast emporragte. Ein Teil des Rumpfs war mit einem Segeltuch abgedeckt worden.
Der Dachs reckte schnuppernd die Nase, um Witterung aufzunehmen. In dem Boot schien etwas Fressbares zu sein. Vielleicht ein Stückchen Fleisch? Vielleicht eine Maus? Nun, er würde sich auch mit Aas begnügen, denn um ein lebendiges Tier zu schnappen, war er viel zu langsam geworden. Sein Speiseplan bestand daher vornehmlich aus Schnecken.
Vorsichtig kam der Dachs näher. Plötzlich zog er den Kopf ein. Aus dem Boot drang ein eigenartiges Geräusch. Sofort flüchtete der Dachs und versteckte sich hinter einer entwurzelten Kiefer.
Das Unwetter der vergangenen Nacht hatte das Land verändert. Zu Dutzenden lagen die Baumstämme auf dem Strand, nachdem der Sturm Schneisen der Verwüstung in die Wälder geschlagen hatte. Es schien, als hätte der Donnergott Thor mit seinem Hammer Mjölnir auf der Erde gewütet: Buchen, Birken und Kiefern waren umgeknickt wie dürre Äste und kräftige Eichen waren aus dem sandigen Erdreich gerissen worden.
Der Regen hatte sein Übriges getan. Unmengen von Wasser hatten den Fjord anschwellen lassen. Schmutzig braun wälzten sich die Fluten in nordöstlicher Richtung davon, dem Baltischen Meer entgegen. Das Erdreich war aufgeweicht, Straßen und Wege waren unpassierbar geworden.
Jetzt, am frühen Morgen, atmete die Welt wieder durch. Der Himmel zeigte sich blassblau und wolkenlos. Tiere lugten aus ihren Verstecken hervor, um den frischen Duft aufzunehmen, den die feuchte Erde ausdünstete. Füchse und Hasen tapsten durch den gefurchten Wald; Vögel zwitscherten, als sei nichts geschehen.
Der Dachs beäugte aus sicherer Entfernung das Boot. Erst nach einer Weile wagte sich das Tier wieder hinter dem Baumstamm hervor und schlich, vorsichtig Pfote vor Pfote setzend, auf das Gebilde zu.
Da wurde mit einem Mal die Abdeckung fortgerissen, und aus dem Boot erhob sich ein riesenhaftes Wesen. Der Zweibeiner stieß einen lauten Fluch aus, als sich ein Schwall Regenwasser, das sich auf
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