Das Buch der Sünden
von Blitzen erhellten Nachthimmel jagten tiefhängende Wolken vorüber.Ohrenbetäubender Donner grollte über dem Wald. Der Sturmwind schüttelte die Wipfel hin und her.
Das Fasten der vergangenen Tage hatte Ansgars Körper so sehr geschwächt, dass er sich kaum noch bewegen konnte. In einem Dämmerzustand vegetierte er vor sich hin. Er sehnte den Tod herbei, sehnte sich nach dem göttlichen Gericht.
«O Herr, du Gott meines Heils, ich schreie Tag und Nacht nach dir! Ich liege unter den Toten, bin den Erschlagenen gleich, die im Grabe ruhen …»
Immer wieder sagte er das. Seit sechs Tagen.
Er hatte nichts gegessen, nur hin und wieder einen Schluck fauliges Wasser getrunken, das er mit der Hand aus dem Noor geschöpft hatte.
Die Zweifel, die ihn bereits sein Leben lang geplagt hatten, waren nun übermächtig geworden. Er hatte nach der Krone des Martyriums gestrebt, aber sie war ihm verwehrt worden. Warum? War er wirklich ein Sünder?
Der Missionar ließ sein Leben an sich vorbeiziehen, die zweiundsechzig Jahre, die Gott ihm gegeben hatte. Im Jahre des Herrn 826 war Ansgar das erste Mal in die Länder der Normannen gereist, in den rauen Norden. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, ein junger Mann, den Kopf voller Ideen und Ideale. Er folgte dem dänischen König Harald Klak, der sich hatte taufen lassen.
Der Herr selbst war es gewesen, der ihm den Auftrag für die heilige Mission erteilt hatte.
«Ich habe dich zum Licht der Heidenvölker gemacht, auf dass du ihnen mein Heil seiest bis an der Erde Grenze.» So hatte der Herr gesprochen, und Ansgar hatte sein Leben der Mission geweiht.
«Vade,
et martyrio coronatus ad me reverteris
– Gehe hin! Mit der Krone des Martyriums wirst du zu mir heimkehren.»
Die Krone!
Er hatte den Dänen eine Kirche errichtet und den dänischen König getauft. Er war nach Schweden gereist, zum Volk der Svea. Eine Glocke hatte geläutet in Haithabu, eine Glocke im Land der Heiden. Er war Bischof geworden.
Die Krone!
Er hatte Karl den Großen und Ludwig den Frommen überlebt, hatte den Erzbischof Ebo, die Missionare Gauzbert und Wittmar und viele andere zu Grabe getragen. Ansgar war Mönch, Priester, päpstlicher Legat, Bischof.
Aber die Krone?
Er hatte alles wieder verloren. Die Heiden hatten sein Bistum verwüstet, damals im Jahre des Herrn 845 beim Überfall auf die Hammaburg. Die Svea hatten ihn aus ihrem Land verjagt, die Dänen seine Kirche verwüstet und die Glocke Gottes gestohlen. Sie hatten Waffen daraus geschmiedet. Waffen zum Töten.
Die Krone? Gott hatte sie ihm versagt.
Der Missionar zitterte. Es war kühl geworden. Seine Glieder schmerzten. Sein Rücken war mit blutigen Striemen von den Gertenschlägen überzogen.
Eine kräftige Böe brauste über die Lichtung hinweg und ließ die Klause erbeben. Vom Dach löste sich ein großes Brett und landete mit einem dumpfen Geräusch neben Ansgar.
Er drehte den Kopf. Warum hatte das Brett ihn verfehlt? Warum hatten die Svea ihn nicht getötet? Warum war er nicht ertrunken?
Ansgar richtete sich auf. Er kannte die Antwort. Natürlich!Wie hatte er nur so blind sein können? Der Allmächtige hatte noch etwas mit ihm vor. Sein irdischer Auftrag war noch nicht vollendet. Aber was war es, was der Herr von ihm verlangte?
Ansgar nahm seine letzte Kraft zusammen und erhob sich. Seine Beine waren schwach, er schwankte. An die Wand gestützt, wartete er, bis sich der Schwindel in seinem Kopf gelegt hatte.
Der Wind heulte um die Hütte und pfiff durch die Ritzen. Da riss plötzlich eine Böe die Tür auf.
Ansgar trat ins Freie und setzte sich schwerfällig in Bewegung. Seine Füße trugen ihn in den Wald, immer weiter, trugen ihn zurück zur Stadt, zurück nach Haithabu.
50.
Helgi öffnete die Tür und brüllte den Namen des Kryppa in die dunkle Werkstatt.
Niemand antwortete ihm.
«Wo steckst du, Mörder?», schrie Helgi und ging ins Haus. «Zeig dich und kämpfe.»
Er fasste das Schwert fester.
Ein Lichtstreifen schimmerte durch den Spalt unter der Tür zur Schlafkammer. Helgi trat gegen die Tür, die krachend in den Raum dahinter fiel. Drinnen brannte ein helles Feuer, dessen Schein Helgi blendete. Er kniff die Augen zusammen. Dann sperrte er sie wieder auf und schreckte zurück.
Der Mörder seines Vaters lag neben dem Feuer. Helgis Magen krampfte sich zusammen. Er musste sich zwingen,ein zweites Mal hinzuschauen. Er presste die Lippen aufeinander und trat näher an das heran, was einmal ein Mensch gewesen
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