Das Buch der Sünden
war.
Der Kryppa.
Man hatte seine Leiche ausgeweidet, sie geschlachtet wie ein Tier. Körperteile und Eingeweide lagen verstreut herum. Blut, überall war Blut, auf dem Boden, an den Wänden. Gizurs fahles Gesicht war der Decke zugewandt, auf die Stirn ein Zeichen eingebrannt.
Aber wo war Rúna?
Helgi machte kehrt. Er bemerkte eine zusammengekrümmte Gestalt auf dem Schlaflager und beugte sich über sie. Herkia! Er berührte ihren Arm, der eiskalt war.
Helgi ging zurück in die Gasse. Staub und Stroh wirbelten umher. Es roch nach Rauch. Mehrere Häuser, die von Blitzen getroffen worden waren, brannten bereits. In dem Moment zuckte ein weiterer von Thors Speeren vom Nachthimmel herab, zerriss die Finsternis und schlug in das Haus ein, in dem Hrolf und Bera wohnten. Das knochentrockene Dach fing sofort Feuer. Menschen schrien um ihr Leben. Helgi sah, wie der Glasperlenmacher und seine Frau aus dem Haus rannten, ihre Kinder vor sich hertreibend. Andere Menschen eilten herbei. Da waren Björn Fiskari, Aslak der Bootsbauer, Falr Leðrsniddari und viele andere. Die Nachbarn wollten helfen. Sie füllten Eimer mit Wasser und schütten es in die Flammen. Die Menschen hatten Angst, das Feuer könne auf die anderen Häuser übergreifen. Doch es war ein ungleicher Kampf, das Feuer breitete sich rasend schnell aus. Schon griffen die Flammen auf Björns Haus über.
Helgi riss sich von dem Anblick los. Er musste Gullweig retten. Er stürmte durch die Schmiede und kam indie Schlafkammer. Seine Mutter lag auf ihrem Lager. Helgi packte sie bei den Schultern, um sie wach zu rütteln.
Der Schrei erstickte in seiner Kehle. Gullweigs Körper war schlaff, leblos. Ihre Augen waren weit geöffnet, ihr Gesicht verzerrt.
Die Erkenntnis, dass sie tot war, ließ ihn taumeln. Nein, nicht auch noch Gullweig!
Er nahm das Schaffell beiseite, mit dem seine Mutter bedeckt war. Sie war nackt, ihr Körper mit schwarzgeränderten Wunden übersät. Es stank nach verbranntem Fleisch. Auf ihrer linken Brust, dort wo sich ihr Herz befand, war ein tiefer Einstich. Das Blut an der Wunde war geronnen.
Helgi konnte keinen klaren Gedanken fassen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er ihre weichen Haare berührte.
Ein Geräusch aus der Küche ließ ihn zusammenzucken. Aus dem dunklen Raum trat ein Schatten hervor.
«Sie ist sehr tapfer gewesen», sagte jemand und lachte heiser.
Helgi erkannte eine Gestalt, die in einen schwarzen Umhang gehüllt war. Er hob das Schwert. Unter der Kapuze ertönte ein verächtliches, tiefes Lachen, als die Gestalt, offenbar ein Mann, hinter sich griff und etwas nach vorne zerrte.
Rúna!
Der Vermummte drückte ihr ein Messer an die Kehle. «Liebst du diese Sklavin?»
Helgi war unfähig zu sprechen.
«Liebst du diese Sklavin mehr als dein eigenes Leben?», fragte der Mann erneut. «Wenn ja, dann wirf das Schwert zu mir herüber.»
Die Hand mit dem Messer bewegte sich, Blut tropfte von Rúnas Hals herab.
«Ich … nein, warte», stammte Helgi.
«Rette ihr Leben, indem du deines opferst.»
Helgi ließ das Schwert fallen.
«Schieb es mit dem Fuß zu mir herüber!»
Allmählich gewann Helgi die Kontrolle über seine Gedanken wieder. «Lass sie gehen», sagte er.
«Du musst mir vertrauen. Wenn ich das Schwert habe, ist das Weib frei.»
Helgi hatte keine andere Wahl. Er stieß gegen das Schwert, sodass es über den Boden rutschte. «Du hast mir dein Wort gegeben.»
Der Vermummte lachte. «Ich verhandle nicht mit Dämonen.»
«Was …?»
Der Mann zog sich die schwarze Kapuze vom Kopf. Darunter kam das Gesicht des Priesters zum Vorschein. Er rief: «Superbia!»
Odo schleuderte die junge Frau zur Seite und sprang vor. Das Messer schoss auf Helgi zu. Doch plötzlich strauchelte der Priester. Rúna hatte ihm ein Bein gestellt. Die Klinge verfehlte ihr Ziel und ritzte nur Helgis Wange auf. Er warf sich auf sein Schwert. Aber der Priester war schneller, trat die Klinge weg und griff erneut an. Helgi kam wieder auf die Beine und stellte sich schützend vor Rúna.
In dem Moment krachte eine Böe gegen das Haus, Stroh rieselte vom Dach herab.
Der Priester verzog keine Miene. Sein Gesicht war wie in Stein gemeißelt, und seine Augen funkelten, als er sich Helgi näherte.
«Das Jüngste Gericht», murmelte Odo. «Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte …»
Wieder traf eine Böe das Haus mit voller Wucht. Balken ächzten und bebten. Wind fegte durch den Raum, riss einen
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