Das Buch der Sünden
Steuerruder fortgeschleudert; Ansgar wäre beinahe über Bord gegangen.
Das Boot krängte und stellte sich quer zum Wind. Die nächste Welle erwischte den Kahn mit voller Breitseite. Wassermassen ergossen sich ins Boot. Helgi wurde erneut von den Füßen gerissen und knallte mit dem Kopf auf die Planken. Benommen raffte er sich wieder auf und schaffte es, die Riemen zu packen.
Teška deutete hektisch auf das Land vor ihnen. Der Küstenverlauf hatte sich geändert. Keine einhundert Schritt entfernt war eine Steilküste aus dem Dunst aufgetaucht.
Ansgar fand seine Stimme wieder. «Die Wellen werden uns zerschmettern.»
Nicht, wenn Odin uns beisteht, dachte Helgi zerknirscht. Dein Herr Jesus hat wieder einmal versagt.
Ansgar faltete die Hände. Er richtete den Blick in den grauen Himmel und begann zu beten.
«Noch zwanzig Schritt», rief Teška. «Noch zehn, noch fünf!»
Ein Sog erfasste das Boot. Helgi riss die Ruder aus dem Wasser, kurz bevor sie an Land geschleudert wurden. Knirschend bohrte sich der Kiel in den mit Kieselsteinen übersäten Strand. Sofort sprangen sie aus dem Boot, und Helgi zog es den Strand hinauf, damit die nächste Welle es nicht ins Meer zurücksaugen konnte.
Erschöpft schleppte er sich zu den anderen, die am Fuß der Steilküste um Luft rangen.
Ansgar warf Helgi einen zornigen Blick zu. «Gott spricht: Stolz kommt vor dem Zusammenbruch, und Hochmutkommt vor dem Fall. Merk dir das, du leichtsinniger Däne!»
Darauf wusste Helgi nichts zu erwidern.
Später verspeisten sie schweigend einen Teil der Vorräte aus L’ubici. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit sie das letzte Mal solche Köstlichkeiten zu sich genommen hatten.
In der Nacht flaute der Sturm ab.
Als der Morgen dämmerte, hatten sich die dunklen Wolken aufgelöst. Der Himmel war strahlend blau; nur hier und da zeigten sich weiße Wölkchen, und am Strand rollten die Wellen gleichmäßig aus.
Helgi erwachte vor den anderen. Er ging zum Boot hinunter, das in einem Knäuel aus Seegras und anderem Treibgut lag. Vorsichtig ruckte er an den Planken und Steven. Das Boot schien weitgehend unbeschadet zu sein, von dem abgebrochenen Mast einmal abgesehen, dessen untere Hälfte noch in dem Balken steckte, den man
kölsvill,
Kielschwelle, nannte.
«Kannst du das Boot reparieren?», fragte Teška, als sie sich zu Helgi gesellte.
Ansgar war ihr gefolgt. Man sah dem alten Mann die Strapazen der Reise an. Er war blass, und unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab.
«Ich bin Schmied, kein Bootsbauer», sagte Helgi.
«Aber du kannst mit Holz umgehen», entgegnete Teška.
«Ich kann Figuren schnitzen. Aber einen Mast bauen …? Nein, ich werde wohl rudern müssen.»
Teška ließ sich Helgis wunde Hände zeigen und schüttelte den Kopf.
Helgi blieb stur. «Wir haben keine andere Wahl.»
«Wenn ich mich nicht täusche, gab es hier ganz in der Nähe einmal eine Stadt», warf Ansgar ein.
Sie waren am Südende einer Landzunge oder einer Insel, die dem Festland vorgelagert war. Es waren jedoch keinerlei Spuren einer Siedlung zu erkennen. Kein Rauch, keine Häuser, keine Arbeitsgeräusche. Nirgendwo weidete Vieh, nirgendwo wurden Äcker bestellt.
«Der alte Mann hat recht», sagte Teška. «Diese Stadt wurde aber bereits vor langer Zeit von den Dänen zerstört.»
Ansgar nickte eifrig. «Man nannte es das Emporium Reric. Im Jahre des Herrn 808 hat eine dänische Flotte unter dem damaligen König Göttrik die Stadt überfallen und viele der Bewohner nach Haithabu verschleppt.»
«Warum sollte der König das getan haben?», fragte Helgi mürrisch. Es ärgerte ihn, dass der Alte besser über die Dänen Bescheid zu wissen schien als er selbst.
«Reric war damals ein bedeutender Handelsort», erklärte Ansgar. «Es war viel größer als Haithabu. Göttrik hat sich die Konkurrenz vom Hals geschafft, indem er das Emporium zerstörte. In Haithabu ließ er die Handwerker und Kaufleute für sich arbeiten und machte sie tributpflichtig. Wenn man so will, verdankt deine Heimatstadt ihre heutige Bedeutung einem Überfall auf die Sclavi.»
Helgi kickte einen Kieselstein über den Strand. «Wenn Reric zerstört ist, werden wir dort kaum einen Bootsbauer finden.»
«Man sagt, dass es nur noch eine Geisterstadt ist», raunte Ansgar.
«Die Götter haben Reric mit einem Fluch belegt», sagte Teška. «Immer wieder haben die Menschen versucht, den Ort aufzubauen. Doch es dauerte jedes Mal nicht lange,bis die Stadt erneut
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