Das Buch der Sünden
niederbrannte. Irgendwann hat man sie aufgegeben.»
Je mehr Helgi darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm der Gedanke, zu der alten Stadt zu fahren. Wenn sie dort auch keinen Bootsbauer finden würden, so doch vielleicht einen Balken oder etwas Ähnliches, das man als Mast verwenden konnte. Helgi hatte auf der Fahrt hinreichend Gelegenheit gehabt, die Konstruktion eines Schiffsmasts zu studieren. Vielleicht schaffte er es doch, das Boot zu reparieren.
«Wir fahren nach Reric», beschloss er.
«Aber der Fluch …», rief Teška.
«… und die Geister», warf Ansgar ein.
Helgi wischte die Einwände mit einer Handbewegung fort. «Mein Schwert wird uns beschützen.»
Das Ausmaß der Zerstörungen Rerics war verheerend und auch jetzt noch, mehr als ein halbes Jahrhundert später, gut zu erkennen.
Auf einer Länge von fast einer Meile säumten die Ruinen der Hütten und Grubenhäuser die Küstenlinie. Die meisten Gebäude waren niedergebrannt und in sich zusammengefallen. Oftmals ragten nur noch die Stützbalken aus der Erde. Unkraut wucherte mannshoch und bedeckte die verkohlten Überreste.
Der Stadt war ein Hafen vorgelagert. Vereinzelt konnte man noch Teile der Palisaden erkennen, die das Hafengelände einst umgeben hatten. Hier und da steckten schiefe Pfosten im Erdreich, die aussahen wie verfaulte Zähne im Kiefer eines alten Mannes.
Helgi ruderte das Boot durch eine schmale Einfahrt in den Hafen. Das Becken war stellenweise verlandet. AmUfer standen noch drei Landebrücken, deren Bohlen und Stützpfeiler aber weitgehend verrottet waren. Nur die Brücke, die der Hafeneinfahrt am nächsten lag, machte einen so stabilen Eindruck, als habe man sie vor nicht allzu langer Zeit ausgebessert.
Geräuschlos glitt das Boot durch den Hafen auf die Landebrücke zu. Nachdem sie den Kahn vertäut hatten und ausgestiegen waren, gingen sie vorsichtig über die Brücke. Die Holzbretter unter ihren Füßen erwiesen sich jedoch als haltbar. Bald darauf kamen sie auf einen Knüppelpfad, der ein kurzes Stück über eine Feuchtwiese und dann nach Reric führte.
Ein beklemmendes Gefühl beschlich Helgi, während sie sich den Trümmern näherten. In der Ruinenstadt war es totenstill. Selbst die Tiere schienen diesen Ort zu meiden. Keine Bienen summten, keine Möwen schrien. Nicht einmal Mücken sirrten durch die Luft.
Helgi legte die Hand an das Schwert, das er hinter seinen Gürtel gesteckt hatte. Sie hatten gerade die ersten zerfallenen Hütten passiert, da ergriff Ansgar plötzlich Helgis Arm und deutete aufgeregt auf eines der niedergebrannten Häuser.
«Ich glaube, da war etwas», flüsterte er.
Helgi konnte nichts erkennen.
«Es war eine Bewegung, ein Schatten», sagte Ansgar leise.
Da drang ein Geräusch aus der Ruine. Helgi zog sein Schwert. Aber es war nur ein Hund, der mit eingezogenem Schwanz auf den Weg humpelte. Das Tier hatte nur noch drei Beine. Ohne die Eindringlinge zu beachten, verschwand der Hund hinter einer mit Brombeerranken zugewachsenen Wand.
Sie wollten ihren Weg gerade fortsetzen, als unvermittelt zwei zerlumpte Frauen in die Gasse traten, die wie Vogelscheuchen aussahen. Ihre Kleider waren dreckverschmiert und ihre Gesichter verhärmt. Eine der beiden – sie war einen Kopf größer als die andere – öffnete ihren zahnlosen Mund und rief ihnen etwas zu.
«Sie wollen wissen, ob wir etwas zu essen haben», übersetzte Teška.
«Es ist noch etwas Brot, Fleisch und Käse übrig», sagte Ansgar.
«Zeig ihnen das Brot», forderte Helgi ihn auf, und zu Teška sagte er: «Frag sie nach einem Bootsbauer. Biete ihnen das Brot an. Wenn sie uns helfen, sollen sie es bekommen.»
Während Ansgar das Brot in die Höhe hielt, stellte Teška die Frage. Die Frauen schauten sich an, dann sagte die größere einige Sätze.
«Sie wissen nichts von einem Bootsbauer», übersetzte Teška. «Aber am Ende dieser Straße, unterhalb des Gräberhügels, soll noch ein sehr alter Mann leben. Dort soll früher das Handwerkerviertel gestanden haben. Vielleicht kann der alte Mann uns etwas über einen Bootsbauer erzählen.»
Während Teška übersetzte, hatten sich ihnen die Frauen genähert.
«Gib ihnen das Brot», sagte Helgi.
Als Ansgar es ihnen reichte, griffen sie gierig danach und schlangen es sofort hinunter. Dabei ließen sie ihre Augen nicht von dem Lederbeutel in Ansgars Hand, in dem sich die anderen Lebensmittel befanden.
«Sie wollen noch mehr», meinte Teška, nachdem eine der Frauen etwas zu
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