Das Buch der Sünden
wurden die Bogenschützen ins Wasser geschleudert. Einer der Männer konnte sich an einem Stein festklammern, der andere versank von Waffen und Rüstung hinabgezogen in der Travena.
Helgi ruderte wieder in die Flussmitte zurück. Er dankte Odin, dass der Göttervater ihnen beigestanden hatte.
«O Herr!», rief Ansgar. «Der Herr Jesus hat uns beschützt.»
Helgi verzog das Gesicht. Für den Kampf war Odin zuständig, der Kriegsgott! Herr Jesus sollte sich lieber um das Wetter kümmern, und angesichts der sich am Himmel zusammenballenden Wolken würde er gleich eine Menge zu tun bekommen.
5.
Der Sturm brauste über das Meer und entfesselte seine Kräfte. Graue Wolken jagten dicht über das schäumende Wasser hinweg. Mannshoch türmten sich die Wellenberge auf. Das Wasser schien zu kochen.
Dennoch sah Helgi keinen anderen Ausweg, als den Kampf gegen das Meer aufzunehmen. Jederzeit konnten die Wagrier mit einem neuen Schiff auftauchen.
Teška stemmte sich gegen das Steuerruder, um den Kahn auf Kurs zu halten, während Helgi gegen die Wellen anruderte. Der Alte kauerte mit aschfahlem Gesicht im Heck; seine Magenbeschwerden waren offenbar zurückgekehrt.
Das Boot stieg hinauf und fiel dann klatschend in dieWellentäler zurück. Auf und ab, immer wieder. Gischt tränkte die Luft. Binnen weniger Augenblicke waren ihre Kleider durchnässt.
Helgi sah bald ein, dass er unmöglich weiterrudern konnte. Seine Hände schmerzten, und die Ruder witschten immer wieder aus den Wellen, sodass das Boot bedrohlich schlingerte. Sie hatten sich erst gut dreihundert Schritt von der Küste entfernt.
«Halt das Steuerruder so, dass wir gegen die Wellen stehen», rief er Teška zu. Dann ließ er die Riemen los und wankte zum Mast, um die Stricke zu lösen, die das Segeltuch zusammenhielten.
«Um Himmels willen – was hast du vor?», stammelte Ansgar.
«Wir müssen das Segel hissen.»
Ansgar bekreuzigte sich. «Der Wind ist viel zu stark.»
Eine gewaltige Welle traf das Boot. Helgi verlor den Halt und prallte mit der Schulter gegen die Bordwand. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn, aber es gelang ihm, sich wieder aufzurichten und sich am Segel zu schaffen zu machen.
«Bete zu deinem Jesus», rief er zu Ansgar. «Wer einen solchen Sturm entfachen kann, der wird auch dafür sorgen, dass wir nicht kentern.»
Ansgar würgte und erbrach sich in das schäumende Wasser, während Helgi das knatternde Segeltuch aus dem Wind drehte, es festzurrte und anschließend hochzog. Dann zerrte er es mit einem Seil zu sich heran. Sofort griff der Wind mit voller Wucht hinein, und das Boot schoss wie von Geisterhand erfasst über die Wellen davon.
Teška überließ Helgi dankbar das Steuerruder, das sie kaum noch halten konnte, und schmiegte sich dicht anHelgi, um an seinem Körper Schutz zu finden. Helgi genoss es, Teška so nah bei sich zu haben. Jetzt hing ihr Leben allein von ihm ab – von ihm, dem Sohn des Schmieds Einar.
Teškas Nähe, das knatternde Segel, die besiegten Naturgewalten – das alles verlieh Helgi ein ungekanntes Gefühl von Macht. Er glaubte, niemals zuvor sein Leben so sehr unter Kontrolle gehabt zu haben: das um sich schlagende Meer, den tobenden Sturm, das Boot, das wie ein Pferd über die Wellen dahinritt, und das Mädchen, das er liebte.
Sie jagten an der Küste vorbei. Meile um Meile machten sie gut. Bald war die Travenamündung aus ihrem Blickfeld verschwunden.
In seiner Hochstimmung erinnerte sich Helgi an ein Lied, das Gullweig ihm früher vorgesungen hatte. Es passte hervorragend zu dem Sturmgebraus, und Helgi sang es laut, ohne sich um irgendeine Melodie zu scheren.
«Wer reitet dort auf Räwils Hengsten – über wilde Wogen und wallendes Meer? Von Schweiße schäumen die Segelpferde: Die Wellenrosse werden den Wind nicht aushalten. Über die Schiffsschnäbel schlägt uns das Meer: Die Flutrosse fallen, wer fragt danach …»
Plötzlich ließ ihn ein knackendes Geräusch jäh verstummen. Es wurde abgelöst von einem lauten Krachen. Der Mast war in der Mitte zerbrochen wie ein dürrer Ast. Ein letztes Mal blähte der Wind das Segel, bevor es von einer Böe gepackt und ins Meer geweht wurde. Die Seile flatterten hinterher.
Für die Dauer eines Wimpernschlags schien die Welt stillzustehen. Fassungslos starrten Helgi und die anderen auf den zersplitterten Mast. Doch da rollte bereitsdie nächste Welle heran und riss die Seefahrer aus ihrer Ohnmacht. Helgi und Teška wurden von der Wucht des Aufpralls vom
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