Das Buch der Sünden
ihr gesagt hatte.
«Nein», sagte Helgi und schüttelte demonstrativ den Kopf.
Die Frauen starrten ihn feindselig an. Doch als er einen drohenden Schritt auf sie zumachte, zogen sie sich in eine der Ruinen zurück, von wo aus sie misstrauisch beobachteten, wie die drei ihren Weg fortsetzten.
Nachdem sie etwa eine halbe Meile durch die alte Stadt gegangen waren, erhob sich vor ihnen der Gräberhügel.
«Ich frage mich, wovon die Weiber in dieser Geisterstadt leben», meinte Ansgar.
Da huschte eine Ratte über den Weg.
«Und ich frage mich», erwiderte Helgi, «welches Ungeziefer sich hier noch versteckt hält.»
Am Rande der Geisterstadt, unweit des Gräberhügels, entdeckten sie eine Hütte, die offensichtlich bewohnt war. Durch Ritzen in den Wänden drang dünner Qualm nach außen. Das Haus war aus alten Brettern gezimmert worden, die man aus den Überresten anderer Gebäude zusammengeklaubt hatte. Nichts passte zusammen: Die Wände und das Dach waren schief, die Fenster fehlten, und die Tür lehnte lose im Rahmen.
Helgi seufzte. Wer auch immer in dieser Behausung lebte – einen versierten Handwerker, gar einen Bootsbauer, würden sie in einer solch schäbigen Behausung kaum antreffen.
Als er an die Tür klopfte, hörte er aus dem Innern ein heiseres Husten, das von einer gequälten Stimme abgelöst wurde.
«Der Mann, der hier wohnt, fragt, was wir wollen», übersetzte Teška.
«Erklär ihm, dass wir Werkzeug brauchen», erwiderte Helgi.
Bevor Teška dies in die Hütte rufen konnte, wurde die Tür zur Seite gestellt, und von Rauchschwaden begleitet wankte ein altes Männlein aus der Hütte.
Im ersten Moment glaubte Helgi, einen zu groß geratenen, hässlichen Troll vor sich zu haben. Der mit einem zerschlissenen Mantel bekleidete Alte reichte Helgi kaum bis an die Brust. Seine Haut war grau wie ein Regentag und sein weißer Bart ungepflegt. Der deutlich vorstehende Bauch aber machte einen wohlgenährten Eindruck. Beim Gehen stützte sich der Mann auf einen Stock, denn sein linker Fuß fehlte.
Er starrte die Fremden aus milchig trüben Augen an und reckte die Nase, als wolle er ihre Witterung aufnehmen.
«Frag nach einem Bootsbauer», flüsterte Helgi Teška zu.
Teška wollte die Worte gerade übersetzen, als der Alte mit schnarrender Stimme sagte: «So etwas gibt’s hier nicht mehr.»
«Du sprichst die Sprache der Nordmänner?», rief Helgi überrascht.
«Hm. Man nennt mich Vyšemer. Ich spreche viele Sprachen. Vielleicht alle Sprachen dieser Welt. Früher haben hier Slawen, Friesen, Dänen und Svea gelebt. Sogar Sachsen und Franken. Aber nun bin ich der Letzte, der hier noch lebt. Alle anderen sind tot oder haben sich davongemacht.»
«Uns sind vorhin zwei Frauen begegnet …», warf Helgi ein.
«Ha», blaffte Vyšemer, «das sind Zugezogene. Die sind nicht von hier – ich meine, nicht so wie ich. Du gehörstnur dazu, wenn du hier geboren bist und die Überreste deiner Vorfahren auf dem Gräberhügel verfaulen.»
Er kicherte meckernd, aber es klang nicht amüsiert. «Ich hab noch erlebt, wie deine Landsleute uns heimgesucht haben, Däne. Diese Barbaren! Ich habe gegen Dänen gekämpft. Das kannst du mir glauben, Junge. Ich hab sogar welche getötet.»
«Aber der Überfall war vor bald sechzig Jahren», warf Ansgar ein. «Damals musst du noch ein kleiner Junge gewesen sein.»
Vyšemer zuckte mit den Schultern. «Ich war mal fast so groß wie dieser Däne. Jetzt bin ich nur noch ein alter Knochen. Ich bin bestimmt älter als einhundert Jahre. Wer weiß das schon. Ich zähle die Winter nicht mehr. Sie kommen und gehen, es ist einerlei.»
Helgi runzelte die Stirn. «Kein Mensch wird so alt.»
«Doch, doch», sagte Ansgar, «Adams Lebenszeit betrug neunhundertdreißig Jahre und die seines Nachfahren Methusalah neunhundertneunundsechzig. So steht es geschrieben in der Heiligen Schrift …»
«Pah!», schnarrte Vyšemer. «Du bist einer von diesen Graukutten, diesen Mönchen. Ein Franke. Ich hasse Franken! Und ich hasse Dänen.»
Seine milchigen Augen musterten Teška. «Ranen kann ich auch nicht ausstehen. Geschieht euch recht, wenn man euch als Sklaven verkauft. Ihr seid weniger wert als verlauste Köter.»
In dem Moment schoss aus einer der Ruinen erneut eine Ratte, die von dem struppigen Hund mit den drei Pfoten verfolgt wurde. Er schnappte die Ratte, packte sie im Genick, tötete sie mit einem Biss und brachte sie zu Vyšemer.
Der Alte tätschelte dem Hund die Ohren. Dann
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