Das Buch der Sünden
Tempelburg gerichtet, als reite er zu seiner eigenen Hinrichtung.
Seit Ranislav tot und die Macht wieder an die Tempelpriester übergegangen war, hatte der König nichts mehr zu sagen auf Rujana. Zwar befehligte er ein Heer auf der Königsburg Charenza im Süden der Insel. Dennoch war sein Wort nur eines unter vielen – es war nicht ausschlaggebend, wie es eigentlich hätte sein müssen. Die Wojwoden waren reihenweise von ihm abgefallen, kaum einer hielt noch zu ihm.
Die Ankunft des Königs gab das Signal für den Aufbruch. Priester und Wojwoden setzten sich in seinem Gefolge in Bewegung. Die Wojwoden wurden von ihren eigenen Soldaten begleitet. Dies waren kleinere Einheiten, meist fünf bis zwanzig Krieger, je nach Größe des Herrschaftsgebiets und Geldmitteln des Führers. Bald schob sich ein Tross von annähernd fünfhundert Männern über die Straße nach Arkona.
Teška war die einzige Frau unter ihnen. Es galt als eine besondere Ehre, wenn der Priesterrat einer Frau die Tore Arkonas öffnete. Sie hielt sich dicht hinter Tetĕslav, dergut dreißig Krieger im Schlepptau hatte und damit mehr als jeder andere Wojwode. Die Siedlungen Berghe und Ralsvik, die er befehligte, machten ihn zum mächtigsten Mann unter den Herrschern.
Teška wusste, dass er noch mehr wollte.
Je näher sie der Burg kamen, desto schärfer blies ihnen der Wind entgegen. Die Sonne neigte sich bereits dem Wasser zu, und über dem Meer, fern am Horizont, ballten sich dunkle Wolken zusammen.
Teška begann in ihrem dünnen Hochzeitskleid zu frieren.
Auf den Wehrgängen der Burg drängten sich die Tempelsoldaten, die als die besten Kämpfer der Insel galten. Nur wer sich als geeignet erwies, wurde nach einem strengen Auswahlverfahren in die dreihundert Mann starke Elitetruppe aufgenommen. Die Krieger beschützten den größten Schatz der Insel: das Heiligtum des Gottes Svantevit und die dort gehorteten Reichtümer.
Am Fuße des Walls trennten sich Ratibor und die anderen Wojwoden von ihren Kriegern. Als sie die Brücke unterhalb des Wachturms überquert hatten, musste Tetĕslav vier Silbermünzen entrichten. Diese Abgabe wurde von jedem Mann verlangt, der das Heiligtum betreten wollte.
Jenseits des ersten Walls standen mehrere Holzhütten und Ställe, in denen die Tempelsoldaten und ihre Pferde untergebracht waren. Tetĕslav und Teška mussten wie alle anderen absitzen, um zu Fuß zum zweiten Tor weiterzugehen, hinter dessen massiven Flügeltüren sich der heilige Tempel Svantevits befand. Nachdem die Männer auch ihre Waffen abgegeben hatten, versammelten sich alle vor dem geschlossenen Tor, über dem an einem Querbalken ein menschlicher Totenschädel hing.
Ein Schauer lief Teška über den Rücken. Im Angesicht des Gottes aller Götter würde sich alles entscheiden: Tod oder Freiheit, Hass oder Liebe, Krieg oder Frieden. Das Schicksal der Ranen hing nun ganz allein von ihr ab.
Der durchdringende Ton eines Horns erklang und hallte immer lauter durch die Burg. Das war das Signal.
Als sich die Flügel des Tores öffneten, trat zunächst König Ratibor hindurch. Ihm folgten die Priester des höchsten Rats, dann Tetĕslav mit Teška an seiner Seite.
Zum ersten Mal betrat sie die heilige Stätte. Der Tempel stand auf einer ebenen Fläche, hinter der die Küste zum Meer hin steil abfiel. Die Bauweise des Tempels erinnerte Teška an die Kulthalle in Ralsvik – allerdings war Svantevits Heimstatt mindestens dreimal so groß. Das Gebäude war mit Holzschindeln gedeckt. Am Dach hingen Hirschgeweihe und Pferdeschädel. Der Eingang war von purpurfarbenen Tüchern verdeckt, die mit funkelnden Edelsteinen besetzt waren, und jenseits der Vorhänge wohnte, von außen nicht sichtbar, der Gott Svantevit.
Der Seewind fegte in Böen über die Küste hinweg und blähte die Tücher des Tempels wie Segel. Dann fielen sie wieder in sich zusammen.
Svantevit atmet, dachte Teška.
Links vom Tempel befand sich ein Stallgebäude, rechts ein hüfthohes Podest. Darauf standen mit Schnitzereien versehene Stühle für den siebenköpfigen Priesterrat sowie den Hohepriester, den König und natürlich für Tetĕslav und Teška.
Die Sitze waren nach der Rangfolge der Machtverhältnisse angeordnet. Direkt neben dem Tempel war der Platz des Hohepriesters Žilobog; es folgten die Stühle für denPriesterrat, dann diejenigen, auf denen das Brautpaar Platz nehmen sollte. Ganz nach außen hatte man einen kleinen Stuhl für König Ratibor gestellt.
Man demütigte ihn
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