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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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in aller Öffentlichkeit.
    Der siebenköpfige Priesterrat hatte seit Ranislavs Tod wieder die unumschränkte Macht über das Volk der Ranen inne. Die heilige Aufgabe des Hohepriesters bestand darin, die Orakel Svantevits einzuholen und zu verkünden. Diese Weissagungen beeinflussten alle wichtigen Entscheidungen für das Volk: Svantevit hatte nach dem Glauben der Ranen die göttliche Fähigkeit, den Ausgang von Kriegen vorauszusagen, den Ertrag der Ernte – oder wer der neue König werden sollte, wenn der alte gestorben war.
    Die Oberen nahmen ihre Sitze ein. Nur Žilobog fehlte noch.
    Auch die Fläche vor dem Tempel füllte sich allmählich. Als alle Männer in den Innenbereich geströmt waren, wurde das Tor geschlossen und ein Balkenriegel vor die Flügeltüren geschoben.
    Wieder hob der Klang des Horns an, das, wie Teška nun sehen konnte, von einem Tempeldiener geblasen wurde, der sich neben dem Götzenhaus postiert hatte. Die Gespräche erstarben. Alle Anwesenden richteten ihre Blicke auf das Haus des Gottes. Dann verebbte der Hornklang allmählich. Kurz darauf hörte man nur noch den Wind.
    Teška atmete tief ein. Die Stunde der Wahrheit war gekommen.

23.
    Die Zeremonie begann. Schwungvoll öffnete sich die Tür des Stalls. Ein weißes Pferd trabte aus dem Gebäude. Sein Fell glänzte wie frisch gefallener Schnee. Im Sattel saß der Hohepriester Žilobog. Aufrecht, würdevoll, ein Gesicht wie aus Stein.
    Ein Raunen ging durch die Menge.
    Der Schimmel tänzelte am Tempel entlang zum Podest. Am schwarzen Ledersattel glitzerten kostbare Edelsteine, in die Mähne des Pferdes waren Goldfäden eingeflochten. Als Žilobog das Podest erreichte, zügelte er das Pferd und stieg ab. Mit ausgebreiteten Armen wandte er sich zunächst den Oberen zu, dann den Männern auf dem Platz.
    Kurzer Jubel erhob sich.
    Auf eine knappe Handbewegung des Hohepriesters hin verstummte die Menge abrupt. Daraufhin schritt Žilobog zum Tempel, verschwand hinter den Vorhängen und kehrte sogleich mit einem aus reinstem Silber gefertigten Trinkhorn zurück.
    Žilobogs Miene verriet große Sorge. Er erklomm das Podest und rief: «Volk der Ranen! Gestern habe ich unserem Gott Svantevit zur Weissagung dieses Gefäß gebracht. Es war bis zur Hälfte gefüllt mit Honigwein. Doch nun – seht selbst   …»
    Er drehte die Öffnung des Horns zum Boden. Nicht ein einziger Tropfen fiel heraus.
    Priester und Wojwoden begannen zu tuscheln. Jeder wusste, was das zu bedeuten hatte. Wäre das Horn am heutigen Tag bis an den Rand gefüllt gewesen, so würde die Ernte im kommenden Jahr üppig ausfallen. Doch nundrohte angesichts des leeren Gefäßes eine weitere Missernte.
    Entsetzen machte sich breit.
    Žilobog wartete einen Moment, bis sich die erste Aufregung gelegt hatte. Dann rief er: «Das Volk der Ranen wird ein weiteres Jahr hungern müssen. Tod und Krankheit werden unser Leben bestimmen. Viele werden sterben müssen. Aber   …»
    Er hielt kurz inne, bis ihm alle Aufmerksamkeit zuteilwurde.
    «…   noch können wir Svantevit gnädig stimmen.»
    «Wir tun alles, was der Gott von uns verlangt», riefen die Männer.
    Žilobog drehte sich zum Podest. «Dieser Mann, Tetĕslav, Fürst von Berghe und Ralsvik, bittet Svantevit um Zustimmung für die Hochzeit mit der Tochter des ehemaligen Wojwoden von Ralsvik. Wir werden Svantevit um ein Orakel anflehen – und wenn der Gott die Verbindung gutheißt, wird er uns auch ein weiteres Ernteorakel gewähren.»
    Die Menge stimmte lauthals zu.
    Teška kochte innerlich vor Wut. Die Absicht des Hohepriesters war so eindeutig, dass sie sich für die Leichtgläubigkeit ihrer Landsleute schämte.
    Das Hochzeitsorakel begann mit einem Blutopfer. Ein Tempeldiener entnahm einem Weidenkorb einen schwarzen Hahn, der krähend mit den Flügeln schlug; das Tier schien zu ahnen, was nun kommen würde. Der Diener schleppte den Hahn zu einem Holzklotz, den man vor den Eingang des Tempels gestellt hatte, und hackte ihm mit einem Beil den Kopf ab. Das Blut wurde in einer Silberschale gesammelt und Žilobog gebracht.
    Teška zitterte vor Aufregung. Ihr großer Auftritt stand unmittelbar bevor. Der Hohepriester würde nun anhand des Opferblutes das Hochzeitsorakel lesen – und die Verbindung besiegeln.
    Žilobog ließ Tetĕslav und Teška auf dem Podest vortreten.
    Teška musste Tetĕslav die Hand reichen. Dies war das
záruky,
wie die Ranen die symbolische Vereinigung vor der eigentlichen Vermählung bezeichneten.
    Žilobog

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