Das Buch der Sünden
stippte einen Zeigefinger in die Blutschale und leckte den Finger dann ab. Der Geschmack und die Konsistenz des Hahnenblutes würden das Orakel verkünden.
In diesem Moment zog Teška ihre Hand aus Tetĕslavs.
Tetĕslav schaute sie ungläubig an, und Žilobog erstarrte mit der Zunge am blutverschmierten Zeigefinger.
«Gib mir deine Hand, Weib», zischte Tetĕslav. Sein Gesicht lief rot an vor Wut.
Doch Teška beachtete ihn nicht. Sie baute sich am Rand des Podestes auf und rief der Menge zu: «Dieser Mann, der Wojwode Tetĕslav, ist ein Mörder!»
Zunächst herrschte atemlose Stille. Dann machte sich Empörung breit. «Das Weib erzürnt unseren Gott!», riefen manche. Andere forderten ihre sofortige Hinrichtung.
Teška hielt den Atem an. Die Stimmung war gegen sie – eine denkbar schlechte Grundlage, um Tetĕslav vor aller Öffentlichkeit zu entlarven. Hatte sie zu lange gezögert?
Žilobog fing sich als Erster und versuchte, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. «Das ist nur die Aufregung», rief er. «Es ist nichts. Beruhigt euch. Die Braut bekommt einen Schluck Wein, dann fahren wir fort.»
Plötzlich erhob sich der Ratsälteste. Sein Name warSvjatoslav. Er war ein gefürchteter Eiferer mit schütterem Haar und gelblichen Augen.
Teška hatte nichts Gutes von dem Mann gehört. Als er vortrat, legte sich die Angst wie eine eiskalte Hand um ihr Herz. Doch Svjatoslav bedachte sie mit einem milden Lächeln, als er sie fragte: «Wen soll Tetĕslav denn getötet haben?»
Teška wollte antworten, doch Žilobog fuhr ihr ins Wort. «Weiber dürfen in der Tempelburg nicht reden!»
Alle Blicke ruhten nun auf dem Ratsältesten Svjatoslav. Žilobog war zwar der Hohepriester; aber auch er benötigte für alle Entscheidungen die Zustimmung des Priesterrats.
Teška biss sich auf die Unterlippe.
Svjatoslav beriet sich kurz mit den anderen sechs Priestern, dann verkündete er in Žilobogs Richtung: «Ich gehöre seit langer Zeit dem höchsten Rat der Ranen an. Noch niemals habe ich jedoch erlebt, dass Svantevit bei dem Ernteorakel eine Ausnahme gemacht hätte – so wie es heute geschehen soll.»
Hoffnung keimte in Teška auf. Der Ratsälteste glaubte Žilobog offensichtlich nicht.
Svjatoslav fuhr fort: «Wenn aber heute der Tag der großen Ausnahmen sein soll, dann, so meint der Rat, wird unser Gott Svantevit auch bei dem Weib eine Ausnahme machen. Es soll reden.»
Teška rang unter ihrem Schleier nach Atem. Nun kam es darauf an. Sie rief: «Tetĕslav hat meinen Vater Ranislav ermordet.»
Es wurde totenstill auf dem Platz. Selbst der Wind schien für einen Augenblick zu verstummen.
Der beschuldigte Tetĕslav sprang vor. «Das Weib ist verrückt geworden …»
«Ruhe», fauchte Svjatoslav. «Du redest, wenn du gefragt wirst!»
Tetĕslav ballte die Hände zu Fäusten. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm Befehle erteilte. Mit verkniffener Miene schoss er Blicke wie Giftpfeile auf Teška ab.
Svjatoslav wandte sich an Teška: «Warum sollte Tetĕslav deinen Vater getötet haben?»
«Um ihn aus dem Weg zu räumen, damit er in Ralsvik an die Macht kam. Mit Berghe zusammen ist er der mächtigste Fürst auf Rujana. Und als Nächstes wird er Ratibor töten lassen, um an dessen Stelle der neue König zu werden.»
König Ratibor zuckte zusammen, als habe ihm jemand einen Schlag verpasst.
«Kannst du deine Beschuldigungen beweisen?», fragte Svjatoslav.
Teška reichte dem Ratsältesten einen Beutel, in dem sich zwei Pfeilspitzen mit Widerhaken befanden.
«Eine dieser Spitzen steckte in der Wand des Hauses meines Vaters», erklärte Teška. «Sie gehörte zu dem Pfeil, mit dem Ranislav getötet wurde. Ich selbst habe dies beobachtet, bevor man mich entführt und in die Sklaverei verkauft hat. Die andere Spitze stammt von einem Pfeil, den Seeräuber auf das Schiff abgeschossen haben, mit dem ich vor wenigen Tagen nach Ralsvik zurückgekehrt bin. Beide Pfeilspitzen sind nicht nur identisch – sie tragen auch beide dasselbe Zeichen: einen Wolfskopf. Tetĕslavs Zeichen!»
Teška griff unter ihr Kleid und zog eine Maske hervor, die sie Svjatoslav reichte. «Diese Wolfsmaske trug der Mörder meines Vaters, und ich habe dieselbe Maske bei dem Bogenschützen gesehen, der uns auf der Flucht beschossen hat.»
«Woher hast du dieses Ding?», fragte Svjatoslav.
«Aus Tetĕslavs Jagdhütte.»
Tetĕslav und Žilobog steckten die Köpfe zusammen, wobei Tetĕslav immer wieder auf die Menschenmenge auf dem
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