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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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übergezogen.
    Je länger das Warten dauerte, desto lauter begannen die Arbeiter zu murren, auch die Christen blickten sich nervös um. Wo blieb ihr Priester?
    Nach kurzer Beratung beschloss man, die Glocke ohne Odos Anwesenheit zum ersten Mal läuten zu lassen. Man erwählte dazu Hroar, einen bekehrten Dänen. Die versammelten Männer rückten zusammen, um eine schmale Gassezur Kirchentür zu bilden, durch die Hroar nach draußen zum Glockenturm gehen konnte.
    Ingvar und der kleine Folke standen in der vordersten Reihe der Festgemeinde, in der Nähe des Altars. Den beiden stand ein wichtiges Ereignis bevor, denn sie sollten heute durch Odo die Taufe empfangen.
    «Wann hast du den Priester das letzte Mal gesehen?», flüsterte Ingvar.
    «Gestern Abend», erwiderte Folke. «Ich habe an die Tür seiner Kammer geklopft und ihn gebeten, mit uns die Komplet zu begehen. Aber er wollte nicht mitkommen.»
    Ingvar nickte nachdenklich. Seit das Feuer in Haithabn gewütet hatte, war der Priester mürrisch und wortkarg geworden, hatte sich zunehmend von allen anderen zurückgezogen. Und mit den Wochen war es immer schlimmer geworden. Er hatte seine Kammer kaum noch verlassen. Folke war der Einzige gewesen, der in den vergangenen Tagen hin und wieder Kontakt zu ihm gehabt hatte, wenn er dem Priester Essen und Trinken brachte.
    «Welchen Eindruck hat er auf dich gemacht?», fragte Ingvar.
    Folke runzelte die Stirn, als er nach einem passenden Begriff suchte. «Er sah aus wie ein   … Dämon. Ja, wie ein Dämon. Seine Augen waren ganz rot und verquollen, und er war abgemagert.»
    «Wie ein Dämon?», wiederholte Ingvar entsetzt.
    Folke zeigte auf das Taufbecken, das man neben den Altar gestellt hatte. Es war nach Odos Plänen aus Sandstein gefertigt worden. In den Beckenkopf hatte der Steinmetz götzenhafte Wesen gemeißelt – drachenschwänzige Tiere mit mehreren Köpfen, langen Zungen und aufgerissenenAugen. Diese Figuren symbolisierten die bösen Mächte, denen der Mensch durch die Taufe entrissen werden sollte.
    «Er sieht aus wie eines dieser Wesen?», fragte Ingvar.
    Folke schüttelte den Kopf. «Nein. Aber als er mich durch den Türspalt anstarrte, da habe ich Angst vor ihm bekommen – genau so eine Angst, wie ich sie beim Anblick dieser Wesen empfinde.»
    Ingvars Blick wanderte zum Altar. Er bestand aus einem Holztisch, auf dem ein Leinentuch lag, das mit gestickten Rankenmustern verziert war. Auf dem Tuch standen die Kreuze, die Odo von dem einäugigen Metallgießer Gnupa hatte herstellen lassen, außerdem zwei silberne Vasen mit Herbstblumen und Blattgrün sowie zwei brennende Wachskerzen.
    Die Kerzenflammen zuckten unruhig in der Zugluft.
    Ingvar vermisste das große Silberkreuz, das gestern noch den Altar geschmückt hatte. Er stieß Folke an und fragte ihn nach dem Kreuz. Der Junge hob ahnungslos die Schultern.
    In dem Moment begann draußen die Glocke zu läuten, die neben der Kirche in einem aus Holzbalken errichteten Turm hing. Bei dem durchdringenden Klang lief Ingvar ein Schauer über den Rücken. Das Geläut war bis nach Haithabu zu hören. Der Vorarbeiter Ulf hatte erfolglos versucht, Odo die Glocke auszureden. Nach dem Feuer war Hovis Hass auf die Christen immer größer geworden. Schließlich hatte der Jarl die Arbeiter unter Gewaltandrohung von der Baustelle abziehen lassen. Stattdessen setzte er die Männer für den Wiederaufbau seines Anwesens ein, das von den Flammen vollständig zerstört worden war. Es hieß, Hovi hause seither in seinem Pferdestall, was er alseine ungeheure Schmach empfand, zumal die Christen gleichzeitig eine Kirche bauten.
    Ungeachtet der Gefahr, hatte Odo die Arbeiten an der Kirche weiter vorangetrieben. Dafür hatte er den Dänen so viel Geld versprochen, dass sie sogar noch nachts nach der Arbeit bei Hovi zu ihm gekommen waren. Die Mitglieder der Gemeinde hatten gehofft, dass der voranschreitende Bau ihren Priester fröhlicher stimmen würde. Aber je näher der Tag der Vollendung rückte, umso seltener war Odo auf der Baustelle erschienen. Immer häufiger hatte er sich in seiner Kammer eingeschlossen.
    Perm, einer der älteren Christen, beugte sich zu Ingvar vor. «Gut fünfzehn Jahre ist es mittlerweile her, dass in dieser Stadt zum letzten Mal eine Glocke geläutet wurde.»
    Perm war einer jener Mönche gewesen, die wenige Tage vor dem großen Brand in Haithabu erschienen waren. Es ging die Rede, dass sie mit einem Priester, einem Missionar namens Ansgar, aus Birka gekommen

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