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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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notdürftig reparierten Hütten und Grubenhäusern gesäumt. Wer überhaupt keine Bleibe mehr hatte, konnte von Glück reden, wenn er bei Freunden oder Verwandten unterkam.
    Oder bei den Christen.
    Folke zupfte Ingvar an der grauen Mönchskutte, die dieser in Vorbereitung auf die Taufe zum ersten Mal hatte anziehen dürfen. «Wir müssen weiter», drängte der Junge.
    Schweigend liefen sie durch die Gasse, vom allgegenwärtigen Brandgeruch umwabert, als plötzlich ein zerlumpter Mann auf den Weg sprang. Folke schrie auf. Dem Mann hing das Hemd in Fetzen vom Leib, sein Gesicht war eingefallen, der Bart ungepflegt. Auf allen vieren jagte er einer Maus hinterher, wobei er versuchte, den Nager mitden Händen zu erhaschen. Doch die Maus schlug einen Haken nach dem anderen und flitzte schließlich zwischen Ingvars Füßen hindurch, sodass der Mann mit dem Kopf gegen Ingvars Knie prallte. Die Maus verschwand hinter einem Weidenzaun. Fluchend setzte sich der Mann auf seinen Hintern.
    Erst jetzt bemerkte Ingvar, dass es sich bei dem Mäusejäger um den Fischer Björn handelte.
    «Du hast mein Frühstück entkommen lassen, Munki», zischte Björn. Früher war der Fischer ein hilfsbereiter Mensch gewesen, der das wenige, das er hatte, mit anderen teilte. Aber in seiner Not dachte er nur noch an das eigene Überleben. «Ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen. Meine Angelgeräte sind verbrannt, und außerdem hat irgendein Bastard mein Boot gestohlen. Wenn ich den erwische, dann   …» Er ballte seine dreckverschmierte Hand zur Faust.
    In dem Augenblick öffnete sich in einer der umstehenden Hütten eine Tür, in der Bera Glerpæla erschien. Sie war inzwischen eine
ekkja,
eine Witwe. Ihr Mann, der Glasperlenmacher Hrolf, war in den Flammen umgekommen, als er versucht hatte, sein Haus zu löschen. Seither hungerten Bera und ihre vier Kinder und teilten somit das Schicksal vieler Überlebender.
    «Ich erkenne dich – du bist der Kammmacher», sagte Bera zu Ingvar. Sie war abgemagert, ihr Gesicht von tiefen Falten gefurcht.
    Ingvar nickte zurückhaltend.
    «Warum trägst du die Kleidung der Munkis?», fragte sie feindselig.
    Folke bekam Angst und versteckte sich hinter Ingvars Rücken.
    «Ich bin   … ich lebe jetzt bei den Christen», stammelte Ingvar.
    Björn erhob sich und fuhr sich durch den ungepflegten Bart, während er Ingvar abschätzig musterte. «Hovi sagt, die Munkis sind an dem Feuer schuld. Thor hat seine Feuerblitze geschickt, weil ihr eine Kirkja für euren Gott baut.»
    Ingvar kannte diese Vorwürfe. Durch die Katastrophe sah sich Hovi umso mehr darin bestätigt, dass die Christen die Verantwortung für alles Unglück trugen. Bevor das Feuer gewütet hatte, hatten sich die meisten Bewohner von Haithabu kaum um Hovis Anfeindungen gekümmert. Aber nun, angesichts des großen Leids, kamen ihnen die Christen als Sündenböcke äußerst gelegen.
    Bera stemmte ihre Hände in die Hüfte. «Du bist doch einer von uns, Kammmacher! Wie kannst du dich da diesen Leuten anschließen?»
    «Weil ich, wie die meisten von euch, alles verloren habe», erwiderte Ingvar geradeheraus. «Mein Haus, meine Werkstatt und meine Werkzeuge sind verbrannt. Ich hatte nichts zu essen   …»
    «Wir müssen auch Ratten und Mäuse essen, trotzdem hängen wir uns nicht den Munkis an die Rockzipfel, nur weil deren Vorratskammern gefüllt sind wie die Trinkhörner der Götter», sagte Bera abfällig. «Ich habe gehört, dass ihr euch fett fresst an Fleisch und Fisch und Käse   …»
    «Wer erzählt denn so einen Unsinn?», protestierte Ingvar.
    «Hovi, und der weiß, wovon er redet.»
    Plötzlich machte Björn einen Hechtsprung in Ingvars Richtung. Ingvar dachte, der Fischer wolle sich auf ihn stürzen. Doch Björn jagte an ihnen vorbei, landete unsanftauf dem Bauch und begrub die wiederaufgetauchte Maus unter sich. Der Nager stieß verzweifelte Fieplaute aus, bis Björn ihn gepackt und ihm den Kopf umgedreht hatte.
    Ingvar wandte den Blick ab. Der Hunger machte die Menschen zu Tieren. Da erinnerte er sich an den Kanten Brot, den er als Wegzehrung mitgenommen hatte. Er holte das Stück hervor und teilte es in zwei Hälften. Eines reichte er Björn, das andere Bera.
    «Es stimmt nicht, was Hovi behauptet», sagte Ingvar. «Die Christen haben selbst kaum etwas zu essen. Und was sie haben, teilen sie mit den Armen.»
    Björn schlang den kaum fingerlangen Kanten sofort hinunter, während Bera das Brot zögernd betrachtete. Als sie wieder zu Ingvar

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