Das Buch der Sünden
aufschaute, hatte sie Tränen in den Augen. Als wäre es eine unschätzbare Köstlichkeit, hielt sie das Brot unter ihre Nase, um sich an den Duft gebackenen Roggens zu erinnern, und schob den Kanten schließlich unter ihre Tunika.
«Wenn du das Brot nicht willst …», sagte Björn vorsichtig.
Bera schüttelte seufzend den Kopf. «Es ist für die Kinder.» Dann fragte sie Ingvar: «Warum bist du überhaupt hier?»
«Wir suchen unseren Priester. Odo, ein großer Mann mit dunklen Haaren und Augen …»
«Gestern Abend ist ein solcher Munki in der Stadt gesehen worden», erwiderte Bera. «Vielleicht war es euer Priester. Er soll nach Thora gefragt haben, der Kräuterfrau.»
«Die Kräuterfrau? Was wollte er von ihr?»
Bera zuckte mit den Schultern. «Das musst du sieschon selbst fragen. Geh zum Marktplatz. Dort wirst du sie finden.»
Ingvar war überrascht. «Seit wann wird in Haithabu wieder Markt abgehalten?»
«Seit heute», erklärte Bera und deutete zum Hafen hinunter. An den Landebrücken hatte ein halbes Dutzend Handelsschiffe festgemacht.
«Hovi braucht die Abgaben, die der Markt für ihn abwirft», fügte Björn hinzu. Er lachte tonlos. «Man fragt sich allerdings, wer dort etwas kaufen kann. Ich jedenfalls nicht!»
Als Björn in den Bretterverschlag zurückschlurfte, den er nach dem Feuer auf seinem Grundstück gebaut hatte, pendelte zwischen seinen Fingern die tote Maus am Schwanz hin und her wie eine Kirchenglocke.
3.
Das Angebot, das auf dem Marktplatz feilgeboten wurde, war überschaubar.
Im Sommer hatten die Buden und Stände hier dicht an dicht gestanden. Am heutigen Tage verkauften jedoch höchstens zwei Dutzend Händler ihre Waren. Es gab eine bescheidene Auswahl an Lebensmitteln, Waffen, Töpfen, Stoffen und Sklaven. Die meisten Händler waren mit Schiffen angereist, nur wenige stammten aus Haithabu.
Zwar drängten sich zwischen den Auslagen bereits am frühen Morgen Hunderte von Menschen. Dennoch machten die Händler schlechte Geschäfte. Wie Björn gesagt hatte, konnte sich kaum jemand die Waren leisten. Hovi ließ daher viel mehr Krieger als sonst über den Platz patrouillieren,um die Händler vor Übergriffen der hungrigen Menschen zu schützen.
Während Ingvar und Folke nach der Kräuterfrau Thora Ausschau hielten, weckte einer der Stände Folkes Interesse. Mit großen Augen betrachtete er die Auswahl an Honigkuchen und Birkenteerbonbons. Lächelnd reichte der Händler Folke ein Stück Kuchen zum Probieren. Doch als der Junge es nehmen wollte, riss es ihm ein grobschlächtiger Mann aus der Hand.
«Gib dem Jungen den Kuchen zurück», rief Ingvar erbost.
Der freche Kerl baute sich vor Ingvar auf und stopfte sich das Stück demonstrativ in den Mund. «Wieso soll der kleine Munki etwas geschenkt bekommen und ich nicht?», fragte er kauend.
Sofort mischten sich andere Männer in den Streit ein, die Partei für den Dieb ergriffen. Ein Kerl mit aufgeplatzter Lippe und schlecht verheiltem Nasenbruch knurrte: «Eure Munkibäuche sind fett genug.»
Als er Ingvar am Kragen packte, bekam der Süßigkeitenhändler Angst um seinen Stand und rief die Krieger um Hilfe. Drei bewaffnete Männer eilten herbei, wollten sich jedoch gleich wieder zurückziehen, als sie sahen, dass es sich bei dem Angegriffenen um einen Christen handelte. Erst als die streitlustigen Kerle begannen, auch noch den Händler zu bedrängen, griffen sie ein.
Ingvar nutzte das Durcheinander und schob Folke schnell durch die Menge davon. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Ingvar eine ihm unbekannte Stimme hörte.
«Ah, mein Freund», rief ihm jemand zu. «Wer schöne Frauen erobern will, der braucht schöne Kleider.»
Die Stimme gehörte zu einem dunkelhäutigen Händler, der sich hinter einer reichhaltigen Auswahl an Stoffen und Kleidungsstücken langweilte. Um den Kopf hatte er einen weißen Turban geschlungen, unter dem schwarze Haarsträhnen hervorlugten. Er winkte Ingvar und Folke auffordernd zu sich und empfing sie mit einem breiten Grinsen.
«Ich bin weit gereist, meine Freunde! Ich habe den Dnjepr befahren, den Lowat und den Wolchow. Aber all die Mühen und Strapazen habe ich gern auf mich genommen, um Euch die herrlichsten Kleider zu bringen. Fühlt selbst, meine Freunde. So feinen Stoff bekommt Ihr nur bei mir. Bei Eurem Freund – Ibrahim Ibn Rustah.»
Er hielt Ingvar einen dunkelgrauen Umhang hin, der wie eine Mönchskutte geschnitten war. Der Stoff fühlte sich angenehm weich an.
«Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher