Das Buch der Sünden
derartigen Forderungen. Stattdessen schnitt König Ratibor das erste Stück aus dem Kuchen, Svjatoslav das zweite.
«Wenn wir den Honigkuchen gegessen haben, ist unsere Hochzeit vollzogen», erklärte Teška.
Doch als sie nach dem Kuchen greifen wollte, hielt er sie zurück. «Warte, ich möchte dir noch etwas schenken.»
Er nahm das Lederband mit dem Silberring ab und reichte es ihr.
«Aber du hast ihn doch von deiner Mutter bekommen …», sagte sie leise.
Helgi schüttelte den Kopf. «Nimm ihn, bitte. Gullweig hat ihn einst mir geschenkt, und jetzt sollst du ihn tragen.»
Tränen der Rührung schossen Teška in die Augen, als sie sich das Band um den Hals legte. Dann griff Helgi nach einem Stück Kuchen, um es rasch hinunterzuschlingen. Diese Zeremonie dauerte ihm entschieden zu lang.
«He, nicht so hastig …», ermahnte Teška ihn zärtlich, doch plötzlich verstummte sie.
Auf der Festwiese breitete sich Unruhe aus. Laute Stimmen waren aus den hinteren Reihen zu vernehmen. Immer mehr Männer und Frauen schrien auf. Irgendetwas musste geschehen sein. Helgi stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber nichts erkennen. Dann hörte er die Geräusche nahender Hufschläge und sah, wie aus Richtung der Kulthalle ein Pferd heranpreschte, das von einem Mädchen geritten wurde, dessen helles Haar hinter ihm wehte wie ein Schleier.
Es war Žiliška, Teškas Schwester!
Sie jagte durch die Menge, ohne auf die Menschen zu achten, die in Todesangst vor den wirbelnden Hufen zur Seite sprangen. Sofort zogen die Soldaten des Königs ihre Schwerter und bauten sich vor Ratibor und Svjatoslav auf.
Aber Žiliška hatte ein anderes Ziel. Unmittelbar vor dem Brautpaar brachte sie das Pferd zum Stehen. Ihr bleiches Gesicht war zu einer Maske erstarrt. Aus ihren wasserblauen Augen warf sie Teška einen vernichtenden Blick zu.
Teška löste sich von Helgi und trat an das Pferd, um ihrer Schwester die Hand zu reichen. Doch Žiliška dachte nicht daran, sie zu ergreifen. Stattdessen spuckte sie ihrer Schwester ins Gesicht. Mit zitternden Händen wischte Teška die Spucke weg.
Da begann Žiliška schrille Laute auszustoßen, die kaum etwas Menschliches an sich hatten. Die Schreie wurden abgelöst von scharfen Worten, mit denen sie Teška überschüttete. Schließlich griff sie nach einem Beutel, den sie am Gürtel trug, nahm etwas heraus und schleuderte es Teška entgegen. Es waren weiße Blüten, die auf ihre Schwester niederschwebten wie eine Wolke aus Schneeflocken. Helgi roch einen betörend lieblichen Duft, wie er ihn an Žiliška bei ihrer ersten Begegnung auf dem Opferplatz wahrgenommen hatte.
Dann schoss Žiliškas Hand blitzschnell vor. Sie riss Teška das Lederband mit Helgis Silberring vom Hals, ließ das Pferd herumwirbeln und jagte kreischend davon.
Helgi sah, dass Teška wankte, und konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie zu Boden fiel. Bewusstlos sank sie in seine Arme.
Damek und Ansgar stürmten herbei. Helgi starrte den Toblac hilfesuchend an. «Was war das? Was hat Žiliška mit Teška gemacht?»
Damek schien schlagartig wieder nüchtern geworden zu sein. «Das Weib hat Teška verflucht», stieß er atemlos hervor. «Ein Fluch über eure Kinder …»
Er schüttelte fassungslos den Kopf. «Eure Kinder sollen tot geboren werden.»
TEIL V
Haithabu
Herbst 863 – Frühjahr 864
Und der fünfte Engel goss aus seine Schale auf den Thron des Tieres,
und sein Reich ward verfinstert,
und sie zerbissen ihre Zungen vor Schmerzen
Offenbarung des Johannes 16, 10
1.
Unruhe breitete sich in der Kirche von Haithabu aus wie schleichendes Gift.
Das nach dem heiligen Johannes benannte Gotteshaus war an diesem Tag im Spätherbst des Jahres 863 bis auf den letzten Platz gefüllt. Mehr als vierzig Männer hatten sich im Schein brennender Fackeln versammelt: Arbeiter, die beim Bau geholfen hatten, und die Christen, deren Schar seit der Feuerkatastrophe im Sommer auf nunmehr fünfundzwanzig Mitglieder angewachsen war. Sie alle waren gekommen, um das bedeutendste Ereignis in der kurzen Geschichte der Gemeinde mit einem Gottesdienst zu feiern. Doch es fehlte ausgerechnet jener Mann, dem dies alles zu verdanken war: Priester Odo.
Es war früh am Morgen, draußen herrschte noch Dunkelheit.
Die Arbeiter hatten festliche Kleider angezogen. Ulf, der Vorarbeiter, trug einen knielangen roten Stoffmantel mit silberfarbenen Säumen, andere Männer hatten Fellkappen aufgesetzt und ihre besten Pumphosen
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