Das Buch der Sünden
gedient hatte und dass er sich längst anderer Körper bemächtigt hatte, um das Böse immer tiefer in der Welt zu verankern.
Ich werde den Verderber suchen und finden.
Und vernichten.
4.
Er floh vor den Geräuschen des Meeres, dem grollenden Wellenlachen der Dämonen.
Doch die Schatten des Verderbers verfolgten ihn. Regenprasselte auf ihn nieder. Der Herbstwind fegte in Böen über das Land, riss das letzte Laub von den Bäumen, knickte ihre Äste und heulte sein dämonisches Lachen.
Neun Tage lief Odo nun schon durch das Land, über befestigte Straßen, verschlungene Wege und Knüppelpfade, die ihn nach Süden führten. Er aß nichts, trank nur manchmal etwas Regenwasser. Hin und wieder musste er kurze Pausen einlegen. Wenn die Erschöpfung ihn übermannte, schlug er sich ins Unterholz. Er rollte sich in seine klamme Decke und schlief flach und unruhig, von Albträumen geplagt, für wenige Stunden.
Sobald er erwachte, vor Kälte bebend, setzte er seinen Marsch fort. Aber es war nicht Odos Bewusstsein, das ihm die Richtung wies. Es waren seine Füße, die ihn vorwärtstrugen. Sie hatten die Führung übernommen und brachten ihn einem Ziel näher, von dem er nicht hätte sagen können, wo es lag oder was es war.
Nur von einem war er fest überzeugt: Gott hatte ihn zu der Stelle geführt, an der seine Mutter gestorben war, an der sie erfroren und ihre Knochen anschließend von Tieren blank genagt worden waren. Gott wusste alles, Gott war alles. Daher würde der Allmächtige auch Odos weiteres Schicksal in die Hand nehmen – und seinen Knecht dorthin geleiten, wo er sein sollte, und wenn er bis an die Küsten des Mittelländischen Meeres würde laufen müssen.
So weit kam er nicht. Am Nachmittag des neunten Tages brach er zusammen. Seine Füße trugen ihn einfach nicht mehr weiter, keine zweihundert Schritt von einer kleinen Wegkreuzung entfernt, irgendwo im Niemandsland zwischen der Küste des Nordmeeres und Paris.
Seine Knie knickten ein, seine Beine sackten weg. Erstürzte mit dem Gesicht voran auf den aufgeweichten Boden und schmeckte Erde auf der Zunge, dann verlor er das Bewusstsein.
5.
Der siebenjährige Hatho und seine jüngere Schwester blieben wie angewurzelt stehen, als sie am frühen Abend auf den leblosen Körper stießen, der mitten auf dem Pfad ihren Weg blockierte.
Nach einer Weile wagte sich der Junge vor und stupste mit der Fußspitze gegen die Schulter des Mannes, dessen Gesicht schlammverschmiert war. Das Haar trug er auf dem Haupt kurzgeschoren, wie die Mönche, die bisweilen in dem Heimatdorf der Kinder vorbeischauten.
«Ist er tot?», fragte seine Schwester ängstlich hinter seinem Rücken.
Hatho nickte und bückte sich, um in den Taschen des Mannes nach brauchbaren Gegenständen zu suchen, die dieser sowieso nicht mehr benötigen würde. Doch kaum hatte er dessen Mantel berührt, als plötzlich ein Stöhnen aus der Kehle des Mannes drang.
Schreiend rannten die Kinder ins Dorf, das sich, versteckt im Wald, in der Nähe der Wegkreuzung befand. Nachdem Hatho von dem Mönch berichtet hatte, eilten sein Vater und drei weitere Männer zu der Stelle. Sie legten den Bewusstlosen auf einen Handwagen und karrten ihn zur Hütte des Dorfältesten, wo er fürs Erste unterkommen sollte.
Noch am gleichen Abend hielten die Dorfbewohner eine Versammlung ab. Sie berieten, ob man den Mann indas drei Tagesmärsche entfernte Kloster Corbie bringen sollte. Angesichts des Dauerregens und des sicherlich bald einsetzenden Schneefalls verwarf man diesen Plan jedoch. Stattdessen erklärten sich der Dorfälteste und seine Frau bereit, den Mann zu pflegen, so gut es eben gehen würde.
Die Frau bereitete noch in der Nacht einen Trank aus Heilkräutern, den sie dem Unbekannten einflößte. Tag und Nacht wachte jemand an seinem Lager. Auch Hatho und seine Schwester ließen es sich nicht nehmen, bei der Versorgung des abgemagerten Mönchs zu helfen. Dann endlich, nach drei Tagen, schlug der Mönch die Augen auf.
Wenige Tage vor dem Geburtstagsfest des heiligen Jesus bat ein reisender Priester um Obdach in dem zugeschneiten Ort. Odo hatte inzwischen wieder so viel Kraft geschöpft, dass er sich vom Krankenlager erheben konnte, um zusammen mit den anderen in einer der größeren Hütten die Predigt des Priesters zu hören.
Der Mann, der sich Aaron nannte, erzählte von der Geburt des Heilands und segnete die Dorfbewohner, die ihn so gütig aufgenommen hatten. Es stellte sich bald heraus, dass er ein
Weitere Kostenlose Bücher